Eine Kindheitsutopie

Ein Gastbeitrag von Disegno Magazine

Betrachtet man die detailreichen, mit Wasserfarben kolorierten Landkarten, die sorgfältig gestalteten Sammelkarten, Flaggen, Geheimsprachen und Spiele, aus denen die Republic of Fife besteht, kann man nur schwer glauben, dass dies alles von einem Jugendlichen während des Ersten Weltkriegs weit weg von seiner florentinischen Heimat in einem Internat in England erdacht wurde. Die Kindheitsträumerei von Alexander Girard stellte sich jedoch als erstaunlicher Vorbote seiner späteren Designkarriere heraus.

Text von Aleishall Girard Maxon und Alexander Kori Girard.
Alexander Girard (1907–1993) war einer der führenden Designer der amerikanischen Nachkriegszeit. Obwohl er hauptsächlich für seine Textilien bekannt ist (er war während mehr als 20 Jahren Leiter der Textilabteilung bei Herman Miller), umfasst seine Arbeit Architektur und Innenausstattung, Industrie- und Möbeldesign. Girard war auch ein fanatischer Sammler: Er hat die bis heute umfassendste Sammlung an Volkskunst-Objekten der Welt zusammengetragen, die schliesslich den Girard-Flügel des International Museum of Folk Art in New Mexico begründete. Er war zudem unser Grossvater, und wir kannten ihn als einen humorvollen, gütigen und übermütigen Mann.
Wir wuchsen nur wenige Minuten von unseren Grosseltern entfernt in Santa Fe, New Mexico, auf und verbrachten daher viel Zeit mit ihnen. Wir gingen in ihrem Haus, das für uns endlose Faszination barg, auf Entdeckungstour und fanden dabei immer neue Objekte und Verstecke. Gelegentlich durchstreiften wir «The Foundation», einen ca. 464 Quadratmeter grossen Raum aus Beton, der für die Bearbeitung und Unterbringung der zahlreichen Sammlungen unseres Grossvaters gebaut worden war: Modelle polnischer Kirchen aus Aluminiumfolie, Schubladen voll mit sorgfältig geplätteten Bonbonpapieren, Gläser mit Steinen, Muscheln, Samenschoten und Erde von verschiedenen Orten, sortiert nach Grösse und Farbe, Hotelaufkleber aus scheinbar jedem Land der Erde, eine umfassende Sammlung an Amuletten und vieles mehr.

Als wir nach dem Tod unseres Grossvaters die Republic of Fife entdeckten, war es, als würden wir zurückbefördert in diese frühen Jahre, als wir ungehindert seine Welt entdecken durften. Die geschickte Ausfertigung, die feinsinnige Gestaltung und die verspielte Bilderwelt fühlten sich vertraut an. Der unglaubliche Fokus und die klare Darlegung der Idee hingegen sind angesichts der Komplexität des Projekts erstaunlich. Es lassen sich darin seine Fähigkeit, ein Projekt aus jedem Winkel zu betrachten und sich selbst mit kleinsten Details zu befassen, und sein Wunsch, Design als Kommunikationsmittel zu nutzen, erkennen. Man könnte die Republic of Fife, an der er 1917 zu arbeiten begann, als erstes übergreifendes Designprojekt in der Karriere unseres Grossvaters bezeichnen. Von der Planung und dem Layout bis hin zur tatsächlichen Anfertigung von Hunderten von Dokumenten und Designs – Flaggen, Kostüme, Landkarten und Banknoten – umfasste sie alles, was zur Verwirklichung seiner Vision einer Fantasiewelt erforderlich war.
Unser Grossvater zog die damals verfügbaren Karten von Europa heran und brachte Erlebnisse aus seiner frühen Kindheit in Italien sowie sein aufkeimendes Verständnis der geopolitischen Situation, die sich mit dem nahenden Ersten Weltkrieg auftat, mit ein – die Republic of Fife war seine Weise, die Welt da draussen zu verarbeiten. Er war noch zu jung, um eingezogen zu werden, jedoch alt genug, um die drohende Gefahr zu fürchten. Also versuchte er, sich eine Utopie zu schaffen, in der er alles, von den Hoheitsgebieten bis hin zur Briefmarke, kontrollieren konnte. Das Projekt verband ihn auch wieder mit seiner Familie, die in Florenz geblieben war. Briefe in Geheimsprachen wurden hin und her geschickt und zeugen davon, wie seine Familie sich gemeinsam anstrengte, seine Vorstellungskraft anzuregen. Indem er seine gesamte Familie und insbesondere seinen jüngeren Bruder Giancarlo mit einbezog, arbeitete unser Grossvater auch an seiner Fähigkeit, Menschen durch Briefwechsel, Farben, Design und das menschlichen Bedürfnis nach Fantasie zur Bewältigung von Krisensituationen zusammenzubringen.

Die Beziehung zwischen unserem Grossvater und unserem Grossonkel Giancarlo, der später Keramiker wurde, war sehr eng. Die beiden Brüder trennte ein Altersunterschied von 10 Jahren, und die Republic of Fife war das früheste Beispiel für ein Zusammenspiel ihrer Visionen, aus dem eine komplexe und kalkulierte Bildsprache entstand. Auch wenn Giancarlo zu Beginn des Projekts sehr jung war, leistete er einen gewaltigen Beitrag, als er älter wurde. Es wird klar, dass die mystische Welt, die sie erschufen, und das Brüten über ausführlichen Schriftwechseln, Stadtplänen, Königreichen, Charakteren und kryptischen Symbolen der Republik den Brüdern Trost spendete. Der Briefwechsel bot ihnen die Möglichkeit, trotz der Distanz zwischen ihnen eine Beziehung aufzubauen.
Vor Kurzem kamen wir erneut mit einigen Elementen aus der Republic of Fife in Berührung, als wir im Vitra Design Museum die Retrospektive «Alexander Girard: A Designer’s Universe» besuchten. Wir sahen uns das Werk diesmal zusammen mit Aleishalls Kindern (fünf und acht Jahre alt) an, wodurch wir sein frühes Schaffen noch einmal mit jüngeren Augen sehen und verstehen konnten. Die Fähigkeit der Kinder, Zweifel auszublenden und vollständig in eine Geschichte einzutauchen, ist ein Wesenszug, den unser Grossvater gut verstand. Für Aleishalls Kinder war die Republic of Fife keine Fantasterei und kein Spiel, sondern eine Zeit und ein Ort, die in der Fantasie existieren können – ein Reich, das für Kinder noch nicht völlig vom Alltag losgelöst ist und in dem sie frei sprechen und träumen können, ohne von Erwachsenen gestört zu werden. Selbst jetzt liegt die Entschlüsselung der genauen Bedeutung der Republic of Fife noch ausserhalb unserer Reichweite. Es ist ein Ort, den unser Grossvater für sich selbst geschaffen hatte und der nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt war.

Die Ausstellung des Vitra Design Museums behandelt nur einen Teil des Projekts, der zwischen 1917 und 1924 entstanden ist. Die Welt und die Sprachen, die die Familie Girard in diesem Zusammenhang entwickelten, lebten aber noch lange weiter, auch nachdem sie keine neuen Dokumente und Designs mehr entwarfen – ein Grossteil der Republic of Fife bleibt weiterhin für alle, die nicht unmittelbar an ihrer Entstehung beteiligt waren, ein Rätsel. Dank der Schönheit ihres utopischen Impulses bleibt die Republic of Fife jedoch von entscheidender Bedeutung. Unser Grossvater machte aus dem scheinbar Fremdartigen etwas, das wir in uns selbst wiederfinden können.

Veröffentlichungsdatum: 19.01.2017, der Artikel wurde erstmals veröffentlicht in Disegno #13, Winter 2016/17
Autor: Aleishall Girard Maxon und Alexander Kori Girard
Bilder: Girard Studio LLC, 2017



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