Der Traum vom wilden Leben

Oudolf Garten

Kann denn Kunst Natur sein? Ein Besuch bei dem legendären Landschaftsarchitekten Piet Oudolf, der für viele Museen einen Garten geplant hat, auch bei Vitra in Weil am Rhein.

Im Garten erkennt sich die Gesellschaft. Das ist so ein Satz, typisch für Piet Oudolf. Er sagt ihn ganz lapidar, als sei das eine Wahrheit, die selbstverständlich allen vor Augen steht, den Baumarktbesuchern zum Beispiel, wenn sie gerade nach einem digital gesteuerten Bewässerungssystem oder ein paar bunten Balkonblumen suchen. Neuerdings gibt es dort auch diese grossen Holzkisten, in denen das Gemüse besonders schnell und bequem heranwachsen soll. Ist das ebenfalls Gesellschaft, die Verkistung des Grünen, die Einsargung der Erde und der Pflanzen?

Oudolf ist kein Soziologe und kein Philosoph. Ein Künstler ist er, sagen manche. Denn seit einiger Zeit wird er in der Kunstwelt munter herumgereicht, vor allem für amerikanische Museen hat er überbordende Gärten gestaltet, die Galerie Hauser & Wirth in England hat bei Oudolf eine Performance aus Stauden und Gräsern bestellt. Und jetzt ist auch in Weil am Rhein, gleich neben dem Design Museum des Möbelherstellers Vitra, etwas herangewachsen, das zu einer ästhetischen Erfahrung ganz eigener Art einlädt. Aus Natur wird Kunst, aus Kunst wird Natur. Erkennt sich die Gesellschaft auch darin?

Stolz ist er schon und ein wenig verwundert, wie es kommt, dass einer wie er, ein Gartenarchitekt, der über Jahrzehnte nur in hortikulturellen Fachkreisen ein grosser Name war, nun mit einem Mal von Kunst- und Designzeitschriften als Avantgardist gepriesen wird und sich vor Anfragen kaum retten kann. Hier draussen in Hummelo, einem Flecken unweit der deutsch-niederländischen Grenze, wo er mit seiner Frau Anja ein Gehöft umgebaut hat und wo sich vor seinem Atelierfenster gerade eine Herde Schwarzbunter zum Wiederkäuen gemütlich in die Landschaft legt, hier, in der Abgeschiedenheit einer kargen Industrienatur, getrimmt auf Effektivität, scheint die ewig aufgekratzte Kunstwelt sehr fern zu sein.
Wenn Oudolf überhaupt ein Künstler ist, dann einer, der ganz aus der Idee lebt, ein Konzeptkünstler. Er sitzt an seinem Schreibtisch, der übersät ist mit bunten Stiften, vor sich transparentes Papier. Hier ein paar Kringel in Violett, dort kleine Pünktchen in Blau, es füllen sich die Blätter mit rätselhaften Mustern, heiter und gänzlich abstrakt. Für den Laien jedenfalls; für Oudolf sind es sprechende Zeichen. Hinter jeder Linie verbirgt sich für ihn ein drei-, nein, vierdimensionales, von Farben und Formen, von Stimmungen, Düften, ja sogar von Raschelgeräuschen bestimmtes Bild. Wobei Bild der falsche Begriff ist, denn was Oudolf entwirft, ist eine vielschichtige, sich beständig wandelnde Erfahrung. Wer einen Garten plant, plant in der Zeit.

Vor dem Einschlafen, erzählt er, taucht er oft ein in diese Empfindungswelt, dann sieht er seine Zeichnungen vor sich und geht sie durch vor dem inneren Auge. Wie wird es sein, wenn sich die cremerosafarbenen Alliumkugeln hineinschieben in das schwirrende Tautropfengras? Sind die Texturen kontrastreich genug, wie verhält sich die Farbe zum sanft dahinwogenden Salbei zwei, drei Schritte entfernt, und wie wird sich ihr Miteinander verändern, sobald es August wird oder Oktober? Was passiert, wenn sich im Hintergrund der Wasserdost emporschiebt? Dominiert er dann die Szene? Kann das Flirren der Gräser da noch mithalten?

Hunderte dieser Kombinationsfragen gehen Oudolf im Kopf herum, er sieht die Pflanzen knospen, sieht sie verwelken und verwesen, er schaut dabei zu, wie sich die Stauden und Gräser teppichgleich verweben, wägt ab, ob die Schwachen wohl zu schwach sind oder die Grellen grell genug. Und wie er so daliegt mit halb geschlossenen Augen, ruft er sich immer mal wieder zu, vergiss das nicht, Piet, vergiss nicht. Was andere einen Traumgarten nennen, für ihn ist es Schlaflosigkeit.
Viele schwärmen von der Natürlichkeit seiner Pflanzungen, darüber, dass hier die Ordnung sich selbst zu entspringen scheint, absichtslos und herrlich ungezähmt. Anders als in der zierenden Blumenrabatte, wie sie die Engländer modellhaft entwarfen, meidet Oudolf alles Forcierte, und jeder Anspruch auf Perfektion ist ihm fremd. Aber Natürlichkeit? Wildnis? Alles ist Kontrolle, sagt Oudolf, ist Berechnung. Was nach Freiheit aussieht, nach einem sanften Miteinander, verdankt sich gestrenger Programmierung.

Es ist diese Illusion, die Oudolfs Gärten durchzieht und sie in die Nähe der Kunst rückt. Täuschung kommt ins Spiel, und zugleich ist das Scheinhafte ganz real, mit Händen zu greifen, von Bienen begierig umsummt. Ein seltsamer Doppelcharakter, der einen Sog erzeugt, für einen Moment möchte man glauben, hier zeige sich das Gegenbild zu jener Welt, in der Arten sterben, Pole schmelzen und die Verwüstung halber Kontinente droht. Bei Oudolf wird aus Umwelt eine Mitwelt. Vom Ausgleich erzählen seine Gärten, von einer neu gewonnenen Balance.

Blumenkitsch? Falsche Harmonie? Auf den ersten Blick vielleicht. In Weil jedoch lässt sich schwerlich übersehen, dass Oudolf einen entschiedenen Hang zur Dialektik mitbringt. Bei aller Romantik neigt er nicht zur Süsslichkeit, im Gegenteil.
Schon mit seinem bekanntesten Entwurf, dem High Line Park in New York, gelang es ihm, aus der Ruine eines aufgelassenen Hochbahnviadukts ein botanisches Abenteuer zu machen, ohne dabei die Rudimente des Industriezeitalters zu kaschieren. Spannungsvoll treffen dort die Gegensätze aufeinander: Im alten Gleisbett, ruppig und karg, lässt Oudolf es blühen. Der Schotter, bei ihm wird er fruchtbar. Und ebendas, die verwandelnde Kraft dieses Gartens, Oudolfs Versprechen, dass noch in den ausgedorrten Hinterlassenschaften des fossilen Zeitalters etwas gedeihen kann, hat die High Line ungemein populär gemacht.

Zuversicht, davon spricht Oudolf gern. Wie er sich freut an den ersten Trieben, den Knospen und dass es im Frühling für sein Empfinden keine Blütenmeere in den Gärten braucht, weil ohnehin alles drängt und treibt und in saftigem Grün davon kündet, wie mächtig die Energien der Erneuerung sind, egal, wie trüb und trocken eben noch alles aussah.

Auch der Oudolf Garten in Weil verschliesst sich nicht vor der industriellen Gegenwart, obwohl man sich hier, auf den brezelförmig verschlungenen Wegen, leicht verliert, staunend über den hohen Wiesenknopf, in dessen rosa Staubgefässen sich selbst bei bedecktem Himmel das Licht fängt, erheitert über die Schafgarbe, die mit ihrem zitronensauren Gelb das Auge reizt, bewegt von den Herbstkopfgräsern, wie sie zwischen den blauen Storchschnabel-Inseln eilig dahinzufliessen scheinen. Immer wieder verschiebt sich bei Oudolf die Szenerie, wird rhythmisiert von wiederkehrenden Gruppen, wird dynamisiert durch das Spiel der metallisch blitzenden Disteln, wird beruhigt von einem uralten Kirschbaum, der das wogende Ineinander der über 30.000 Pflanzen überragt. Ganz gleich aber, wie sehr man sich von diesem Auftritt der Eigenwilligen bannen lässt, ob man sie im Detail studiert oder lieber den Blick weit schweifen lässt, immer drängt sich eine zweite Wirklichkeit ins Bewusstsein. Von den nahen Schnellstrassen lärmt es herüber, die breiten Bahntrassen künden davon, dass hier, im Garten, die Ruhe der Natur fern und eine wachstumsversessene Gesellschaft ganz nah ist.
Rundum gibt es Gewerbehöfe und Fabriken, hier fertigt Vitra seine Sessel, Stühle, Tische, auch ein Designkaufhaus liegt in Sichtweite, das die Architekten Herzog & de Meuron entworfen haben. Auch sonst hat Vitra für den Entwurf der Werksgebäude viele grosse Namen engagiert, Tadao Andō, Zaha Hadid, Frank Gehry oder Kazuyo Sejima, manche nennen es spöttisch den schönsten Architektenzoo Europas. Gleich hinter Oudolfs Garten drängt ein Kuppelbau ins Bild, ähnlich dem, den Richard Buckminster Fuller für seine utopischen Träume entwickelte, um den «kosmischen Bankrott» der Menschheit, wie er sagte, abzuwenden. Schon damals, vor über 50 Jahren.
Ist Oudolf nur der jüngste Neuzugang im Tierpark der Besonderheiten? Was seinen Garten unterscheidet, ist Durchlässigkeit: Die Architektenhäuser kehren stolz hervor, wie ideenreich und kühn sie sind, entschiedene Individualisten, denen ihr Gegenüber ganz gleich ist. Oudolf hingegen stiftet Nachbarschaften, er setzt auf Vielfalt in Verbundenheit, da haben die stolzen Solisten ihren Raum und ebenso die Fragilen und Unscheinbaren – und wer möchte, darf auch das als gesellschaftliches Sehnsuchtsbild begreifen.

Der eigentliche Unterschied aber ist die Zweckfreiheit. Der Oudolf Garten auf dem Vitra Campus, er muss nichts umhüllen, nichts abdichten, er hat keine Funktion. Nur wachsen soll er und blühen. Und einen Reflexionsraum öffnen. Jedenfalls dürfen alle ihn als Einladung begreifen, sich hier selbst dem Zweckfreien hinzugeben, etwa auf einer der kleinen hügeligen Rasenflächen, die sich hineinschmiegen in Oudolfs Beete. Es sind Orte der Rundumschau und des Innehaltens, bestens geeignet, den Fragen nachzugehen, die sich hier im Garten, nein, nicht aufdrängen. Eher wachsen sie einem zu.

Anders als in den Betrieben rund um seinen Vitra-Garten, in denen es um ein Wachstum geht, das auf Ausweitung und Vermehrung aus ist, denkt Oudolf in zyklischen Prozessen. Bei ihm ist das Wachsen vom Vergehen nicht zu trennen, seine liebsten Monate sind September und Oktober. Da gewinnt der Garten an Tiefe, sagt er. Da kippt alle Vitalität ins Melancholische, und Oudolf inszeniert auch das. Lässt die abgeblühten Stauden auf den Beeten, freut sich daran, wie sie sich langsam auflösen und umkippen, wie der Raureif die letzten Samenkapseln überfängt und aus dem grünen ein grauer, brauner, erstorbener Garten wird. Erst im Frühjahr wird alles abgeräumt. Dann beginnt das Drängen und Knospen aufs Neue.
So ist auch die Sehnsucht nach Ausgleich, die aus Oudolfs Gärten spricht, keine, die sich je erfüllte. Die Balance, die er sucht, will immer neu erprobt sein. Und wer wissen möchte, wie das geht, kommt nicht umhin, Oudolfs grosse Gesellschaftsmetapher in Weil immer wieder zu besuchen, weil ein Garten vom Wechselspiel lebt, von der Veränderung, davon, dass sich Kultur und Natur stets aufs Neue arrangieren. Im Garten gedeiht das Unerwartete.

Veröffentlichungsdatum: 3.5.2022
Autor: Hanno Rauterberg, zuerst erschienen in DIE ZEIT Nr. 26/2021, 14. Juni 2021
Bilder: Vitra, Piet Oudolf;

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