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Entwicklung eines nachhaltigen Stuhls
Ein Interview mit Chief Design Officer Christian Grosen über Tip Ton RE
Die Herstellung langlebiger Produkte war schon immer der wichtigste Beitrag von Vitra zur Nachhaltigkeit. Dieser ganzheitliche Ansatz wurde Mitte der 1980er-Jahre aktiv ausgebaut: Der Energieverbrauch wurde gesenkt und in den Werken und Büros von Vitra wurde in erneuerbare Energien investiert. Rohstoffe wurden neu bewertet und Materialien ausgeschlossen, die gefährliche oder übermässig energieintensive Prozesse benötigen. Neunzig Prozent des in Vitra-Produkten vorhandenen Aluminiums ist recycelt, und Leder und Kork werden von in Sachen Nachhaltigkeit und Umwelt gleichgesinnten Partnern in Europa bezogen.
Bei den Kunststoffen setzt Vitra darauf, dass die Beschaffung von Materialien bester Qualität dazu beiträgt, dass die damit hergestellten Objekte an der Spitze der Wertschöpfungskette stehen. Die Herstellung von langlebigen Objekten – mitunter den Erbstücken von morgen – ist der Gegenentwurf zur Wegwerfkultur, die Plastikmüll erzeugt. Service, Rücknahme und Überholung verlängern die Lebensdauer der Produkte zusätzlich. Kunststoffe sind ein Eckpfeiler in der Geschichte von Vitra. Das erste Produkt, das der Schweizer Hersteller in Zusammenarbeit mit einem Designer entwickelte, war der Panton Chair, Design-Ikone der 1960er-Jahre, dessen geschwungene, freitragende Form auf die einzigartige Festigkeit synthetischer Polymere angewiesen ist.
2020 hat das Unternehmen nun seinen ersten Stuhl aus recyceltem Kunststoff auf den Markt gebracht: eine Version von Tip Ton, einem Entwurf der Designer Edward Barber und Jay Osgerby aus dem Jahr 2011. Dieser Stuhl ist dafür bekannt, dass er allein durch seine Gussform etwas bietet, was anderen Herstellern nur über komplexe Mechanismen gelingt: eine vorgeneigte Sitzposition für eine bessere Durchblutung und Konzentration beim Arbeiten.
Der Tip Ton RE besteht aus 3,6 kg recyceltem Polypropylen – das wenige Monate zuvor noch in den Haushalten deutscher Verbraucher im Einsatz war, etwa als Shampooflasche oder Joghurtbecher, bevor es über den Gelben Sack in die Spritzgusslinien von Vitra gelangte.
Anlässlich der Markteinführung des Sitzmöbels berichtet Chief Design Officer Christian Grosen über die Idee, die hinter dem Tip Ton RE steckt.
Bei den Kunststoffen setzt Vitra darauf, dass die Beschaffung von Materialien bester Qualität dazu beiträgt, dass die damit hergestellten Objekte an der Spitze der Wertschöpfungskette stehen. Die Herstellung von langlebigen Objekten – mitunter den Erbstücken von morgen – ist der Gegenentwurf zur Wegwerfkultur, die Plastikmüll erzeugt. Service, Rücknahme und Überholung verlängern die Lebensdauer der Produkte zusätzlich. Kunststoffe sind ein Eckpfeiler in der Geschichte von Vitra. Das erste Produkt, das der Schweizer Hersteller in Zusammenarbeit mit einem Designer entwickelte, war der Panton Chair, Design-Ikone der 1960er-Jahre, dessen geschwungene, freitragende Form auf die einzigartige Festigkeit synthetischer Polymere angewiesen ist.
2020 hat das Unternehmen nun seinen ersten Stuhl aus recyceltem Kunststoff auf den Markt gebracht: eine Version von Tip Ton, einem Entwurf der Designer Edward Barber und Jay Osgerby aus dem Jahr 2011. Dieser Stuhl ist dafür bekannt, dass er allein durch seine Gussform etwas bietet, was anderen Herstellern nur über komplexe Mechanismen gelingt: eine vorgeneigte Sitzposition für eine bessere Durchblutung und Konzentration beim Arbeiten.
Der Tip Ton RE besteht aus 3,6 kg recyceltem Polypropylen – das wenige Monate zuvor noch in den Haushalten deutscher Verbraucher im Einsatz war, etwa als Shampooflasche oder Joghurtbecher, bevor es über den Gelben Sack in die Spritzgusslinien von Vitra gelangte.
Anlässlich der Markteinführung des Sitzmöbels berichtet Chief Design Officer Christian Grosen über die Idee, die hinter dem Tip Ton RE steckt.
War es eine Herausforderung, dass der erste Stuhl von Vitra aus recyceltem Kunststoff auf einem bestehenden Entwurf beruht? Wäre es nicht einfacher gewesen, ganz frisch anzufangen?
Wir haben uns für Tip Ton entschieden, weil er aus nur einem Material besteht. Mit einem schon vorhandenen Produkt als Grundlage lassen sich gut Erfahrungen mit einem neuen Material sammeln. Obwohl recyceltes Polypropylen immer noch eine Form von Kunststoff ist, verarbeitet es sich anders. Wenn man mit einem Bestandsprodukt arbeitet, weiss man bereits, welche Aspekte technisch heikel sind, und kann sich von Anfang an darauf einstellen. Der Stuhl Tip Ton verkörpert durch die Kombination einer fast archetypisch anmutenden Gestaltung mit seiner neuartigen Bewegungsidee genau das, was Vitra ausmacht – Innovation und Langlebigkeit. Mit anderen Worten, hier bot sich uns ein guter Ausgangspunkt.
Was genau ist denn anders, wenn man mit Recycling-Material arbeitet?
Der Stuhl muss am Ende belastbar genug sein – das ist bei recycelten Materialien oft ein Problem. Deshalb haben wir ihn mit etwas Glasfaser – so wenig wie möglich – verstärkt. Bei einer Mischung aus Glasfaser und Polypropylen ist es natürlich schwieriger, eine perfekt gleichmässige Oberfläche zu erzielen. Das erfordert einiges an Erfahrung. Daher war es von Vorteil, die Spritzguss-Verläufe und technischen Aspekte der Stuhlgeometrie zu kennen. Von Anfang an stand fest, dass wir mit dem Material keine Kompromisse hinsichtlich der Qualität des Stuhls eingehen wollten. Er sollte in gleicher Weise wie der klassische Tip Ton zertifiziert werden. Es war ein Prozess mit einigen Wiederholungsschleifen, um den minimal erforderlichen Glasfaseranteil zu bestimmen, mit dem sich die gewünschten Qualitätsnormen immer noch erfüllen lassen.
Wie wurde entschieden, woher Sie das Polypropylen beziehen?
Bei recyceltem Kunststoff hat man die Wahl zwischen Post-Consumer- oder Post-Industrial-Rezyklat, sogar Plastik aus den Ozeanen ist eine Option; und bei jedem gibt es Vor- und Nachteile. Am dualen System mit dem Gelben Sack gefiel uns, dass der Weg des Materials so einfach nachvollziehbar ist. Verpackungsabfall aus den Haushalten wird gesammelt, gereinigt und zerkleinert. Dann erschafft man daraus etwas Neues, Langlebiges. Auch die lokale Beschaffung ist ein wichtiger Aspekt: Das Material wird in Deutschland gesammelt und der Stuhl wird in Norditalien hergestellt. Die grosse Mehrheit unserer Lieferanten ist in Deutschland oder den europäischen Nachbarländern ansässig. Das ist gleichzeitig auch der Hauptabsatzmarkt für den Grossteil unserer Produkte. Es gibt Firmen, die Spritzgussstühle in Asien aus Material herstellen, das zuvor in Europa als Abfall gesammelt wurde. In diesem Fall muss das Material hin- und hertransportiert werden. Das führt zwangsläufig zu unnötigen Belastungen der Umwelt.
Wir haben uns für Tip Ton entschieden, weil er aus nur einem Material besteht. Mit einem schon vorhandenen Produkt als Grundlage lassen sich gut Erfahrungen mit einem neuen Material sammeln. Obwohl recyceltes Polypropylen immer noch eine Form von Kunststoff ist, verarbeitet es sich anders. Wenn man mit einem Bestandsprodukt arbeitet, weiss man bereits, welche Aspekte technisch heikel sind, und kann sich von Anfang an darauf einstellen. Der Stuhl Tip Ton verkörpert durch die Kombination einer fast archetypisch anmutenden Gestaltung mit seiner neuartigen Bewegungsidee genau das, was Vitra ausmacht – Innovation und Langlebigkeit. Mit anderen Worten, hier bot sich uns ein guter Ausgangspunkt.
Was genau ist denn anders, wenn man mit Recycling-Material arbeitet?
Der Stuhl muss am Ende belastbar genug sein – das ist bei recycelten Materialien oft ein Problem. Deshalb haben wir ihn mit etwas Glasfaser – so wenig wie möglich – verstärkt. Bei einer Mischung aus Glasfaser und Polypropylen ist es natürlich schwieriger, eine perfekt gleichmässige Oberfläche zu erzielen. Das erfordert einiges an Erfahrung. Daher war es von Vorteil, die Spritzguss-Verläufe und technischen Aspekte der Stuhlgeometrie zu kennen. Von Anfang an stand fest, dass wir mit dem Material keine Kompromisse hinsichtlich der Qualität des Stuhls eingehen wollten. Er sollte in gleicher Weise wie der klassische Tip Ton zertifiziert werden. Es war ein Prozess mit einigen Wiederholungsschleifen, um den minimal erforderlichen Glasfaseranteil zu bestimmen, mit dem sich die gewünschten Qualitätsnormen immer noch erfüllen lassen.
Wie wurde entschieden, woher Sie das Polypropylen beziehen?
Bei recyceltem Kunststoff hat man die Wahl zwischen Post-Consumer- oder Post-Industrial-Rezyklat, sogar Plastik aus den Ozeanen ist eine Option; und bei jedem gibt es Vor- und Nachteile. Am dualen System mit dem Gelben Sack gefiel uns, dass der Weg des Materials so einfach nachvollziehbar ist. Verpackungsabfall aus den Haushalten wird gesammelt, gereinigt und zerkleinert. Dann erschafft man daraus etwas Neues, Langlebiges. Auch die lokale Beschaffung ist ein wichtiger Aspekt: Das Material wird in Deutschland gesammelt und der Stuhl wird in Norditalien hergestellt. Die grosse Mehrheit unserer Lieferanten ist in Deutschland oder den europäischen Nachbarländern ansässig. Das ist gleichzeitig auch der Hauptabsatzmarkt für den Grossteil unserer Produkte. Es gibt Firmen, die Spritzgussstühle in Asien aus Material herstellen, das zuvor in Europa als Abfall gesammelt wurde. In diesem Fall muss das Material hin- und hertransportiert werden. Das führt zwangsläufig zu unnötigen Belastungen der Umwelt.
Den Original-Tip-Ton gibt es in acht Farben. Warum wird die recycelte Version nur in Grau produziert?
Eine farbliche Trennung ist bei recyceltem Abfall sehr schwierig. Eine gezielte Wunschfarbe erreicht man nur über den Zusatz von Pigmenten oder Bleichmittel. Das wollten wir nicht. Wir wollten das Material so sauber wie möglich halten. Daher gilt das Prinzip «What you see is what you get». Es gibt winzige andersfarbige Flecken im Grau, die von Stuhl zu Stuhl leicht variieren. Ich finde, das macht die Sache noch interessanter und erweitert unseren Blick auf die Kunststoffe. Die leicht individuelle Ausprägung des recycelten Materials verleiht ihm Tiefe und Charakter – ähnlich wie die Struktur des Holzes etwas über die Wachstumszyklen eines Baums aussagt.
Wie haben Sie den Stuhl auf seine Festigkeit und Haltbarkeit getestet?
Alle Vitra-Produkte werden streng geprüft, entsprechend den Normen, deren Vorgaben wir erfüllen wollen. Die Prüfungen der BIFMA (Business and Institutional Furniture Manufacturers Association in den USA) und europäischer EN- oder GS-Normen bedeuten, dass Tausende Nutzungszyklen durchgeführt werden. Anders erhält man keine Zertifizierung. Dazu gehören Maschinen, die den Stuhl einer mechanischen Belastung aussetzen, und Fallprüfungen mit Gegenständen. Wir haben zudem eigene Prüfungen entwickelt, deren Anforderungen noch höher liegen. Es war uns wichtig, dass dieser Stuhl die gleichen Werte wie die klassische Version aus Primärpolypropylen erreicht.
Die Fertigung von Produkten im Sinne der Kreislaufwirtschaft setzt Designern und Herstellern Grenzen. Was halten Sie davon?
Es ist eine grosse Herausforderung. Es setzt eine andere Denk- und Herangehensweise voraus. Aber wir passen uns an, denn es ist einfach notwendig, dass wir fortan so denken und handeln. Es gehört zur Verantwortung, die der Designer und das Unternehmen tragen. Im Dialog spornen wir uns gegenseitig an, immer mehr kreislauforientiert zu denken. Neue Materialien und Prozesse zu testen, kann zu unerwarteten Ergebnissen führen; man lernt immer weiter dazu und erweitert sein Wissen über die Kreislaufwirtschaft. Das ist etwas anderes, als eine neue Ästhetik oder eine neue Funktion zu entwickeln. Wir sehen es als eine Herausforderung an, die wirklich zählt. Die Regeln stehen noch nicht fest: Wir schreiben nach und nach unsere eigenen.
Was haben Sie persönlich aus dem Projekt Tip Ton RE gelernt?
Bei einem Besuch im Werk unseres Materiallieferanten fiel mir ein Sack mit zerkleinerten Lebensmittelverpackungen auf. Das Material war noch nicht gereinigt. Es roch noch nach Essen. Der Gedanke, dass aus diesem Abfall ein schönes Objekt entsteht, das viele Jahre lang genutzt werden kann, hat mich glücklich gemacht. Aus Wegwerfmaterialien dauerhafte Produkte entstehen zu lassen – das halte ich für einen überaus sinnvollen Weg. Einen weiteren Aha-Moment hatte ich, als ich mir ein Interview mit einem führenden Akustikingenieur anhörte. Er sagte, dass es keine gute oder schlechte Akustik gibt, nur solche, die sich für einen bestimmten Zweck eignet oder eben nicht. Ähnlich ist es mit Kunststoff. Es ist ein fantastisches Material und wird uns noch lange begleiten, aber es gibt richtige und falsche Wege seiner Nutzung. Man muss einfach verstehen, wann sich recycelter Kunststoff, wann neues Material und wann eine Kombination aus beidem am besten eignet, um Produkte schaffen zu können, die so lange wie möglich behalten und genutzt werden.
Eine farbliche Trennung ist bei recyceltem Abfall sehr schwierig. Eine gezielte Wunschfarbe erreicht man nur über den Zusatz von Pigmenten oder Bleichmittel. Das wollten wir nicht. Wir wollten das Material so sauber wie möglich halten. Daher gilt das Prinzip «What you see is what you get». Es gibt winzige andersfarbige Flecken im Grau, die von Stuhl zu Stuhl leicht variieren. Ich finde, das macht die Sache noch interessanter und erweitert unseren Blick auf die Kunststoffe. Die leicht individuelle Ausprägung des recycelten Materials verleiht ihm Tiefe und Charakter – ähnlich wie die Struktur des Holzes etwas über die Wachstumszyklen eines Baums aussagt.
Wie haben Sie den Stuhl auf seine Festigkeit und Haltbarkeit getestet?
Alle Vitra-Produkte werden streng geprüft, entsprechend den Normen, deren Vorgaben wir erfüllen wollen. Die Prüfungen der BIFMA (Business and Institutional Furniture Manufacturers Association in den USA) und europäischer EN- oder GS-Normen bedeuten, dass Tausende Nutzungszyklen durchgeführt werden. Anders erhält man keine Zertifizierung. Dazu gehören Maschinen, die den Stuhl einer mechanischen Belastung aussetzen, und Fallprüfungen mit Gegenständen. Wir haben zudem eigene Prüfungen entwickelt, deren Anforderungen noch höher liegen. Es war uns wichtig, dass dieser Stuhl die gleichen Werte wie die klassische Version aus Primärpolypropylen erreicht.
Die Fertigung von Produkten im Sinne der Kreislaufwirtschaft setzt Designern und Herstellern Grenzen. Was halten Sie davon?
Es ist eine grosse Herausforderung. Es setzt eine andere Denk- und Herangehensweise voraus. Aber wir passen uns an, denn es ist einfach notwendig, dass wir fortan so denken und handeln. Es gehört zur Verantwortung, die der Designer und das Unternehmen tragen. Im Dialog spornen wir uns gegenseitig an, immer mehr kreislauforientiert zu denken. Neue Materialien und Prozesse zu testen, kann zu unerwarteten Ergebnissen führen; man lernt immer weiter dazu und erweitert sein Wissen über die Kreislaufwirtschaft. Das ist etwas anderes, als eine neue Ästhetik oder eine neue Funktion zu entwickeln. Wir sehen es als eine Herausforderung an, die wirklich zählt. Die Regeln stehen noch nicht fest: Wir schreiben nach und nach unsere eigenen.
Was haben Sie persönlich aus dem Projekt Tip Ton RE gelernt?
Bei einem Besuch im Werk unseres Materiallieferanten fiel mir ein Sack mit zerkleinerten Lebensmittelverpackungen auf. Das Material war noch nicht gereinigt. Es roch noch nach Essen. Der Gedanke, dass aus diesem Abfall ein schönes Objekt entsteht, das viele Jahre lang genutzt werden kann, hat mich glücklich gemacht. Aus Wegwerfmaterialien dauerhafte Produkte entstehen zu lassen – das halte ich für einen überaus sinnvollen Weg. Einen weiteren Aha-Moment hatte ich, als ich mir ein Interview mit einem führenden Akustikingenieur anhörte. Er sagte, dass es keine gute oder schlechte Akustik gibt, nur solche, die sich für einen bestimmten Zweck eignet oder eben nicht. Ähnlich ist es mit Kunststoff. Es ist ein fantastisches Material und wird uns noch lange begleiten, aber es gibt richtige und falsche Wege seiner Nutzung. Man muss einfach verstehen, wann sich recycelter Kunststoff, wann neues Material und wann eine Kombination aus beidem am besten eignet, um Produkte schaffen zu können, die so lange wie möglich behalten und genutzt werden.
Veröffentlichungsdatum: 22.4.2021
Autor: Louis Wustemann
Bilder: Lorenz Cugini, Studio AKFB, Dejan Jovanovic, Marc Eggimann