Die Jean Prouvé Collection des Vitra Design Museums

Ein Interview mit Serge Mauduit, Sammlungskurator

Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein, Deutschland, beherbergt die weltweit umfangreichste Museumskollektion von Entwürfen des französischen Konstrukteurs Jean Prouvé. Ihre Anfänge stammen aus den 1980er-Jahren, als Rolf Fehlbaum (Chairman Emeritus von Vitra) einen Antony-Stuhl erwarb, den er in Paris entdeckt hatte. Damit war Fehlbaums Interesse am Werk von Jean Prouvé geweckt.
Die Sammlung von Prouvé-Entwürfen wuchs im Laufe der Jahre stetig an und kulminierte 2006 in der Ausstellung «Jean Prouvé: Die Poetik des technischen Objekts» des Vitra Design Museums.

Seit dieser Ausstellung ist die Prouvé-Sammlung weitergewachsen und enthält heute etwa 170 Objekte, die für Forschungszwecke und in Ausstellungen verwendet werden. Die Jean Prouvé Collection spielt auch eine wichtige Rolle in der kontinuierlichen Entwicklung des Prouvé-Produktportfolios von Vitra.
Serge Mauduit, der seit beinahe 35 Jahren Sammlungskurator beim Vitra Design Museum ist, teilt im Interview seine Erkenntnisse aus Jahrzehnten der Entwicklungsarbeit an der Jean Prouvé Collection.

Serge, wann hast du angefangen, für das Vitra Design Museum zu arbeiten? Wie hat eigentlich alles begonnen?

Serge Mauduit: Ich habe ein Jahr vor seiner eigentlichen Eröffnung 1989 für das Vitra Design Museum zu arbeiten angefangen. Davor war ich der persönliche Assistent von Alexander von Vegesack, einem Bekannten von Rolf Fehlbaum, der als erster Museumsdirektor eingestellt wurde. Die beiden hatten ein gemeinsames Interesse an Möbeln der Firma Thonet, was zur Grundlage ihrer zukünftigen Zusammenarbeit wurde.

Vegesack und ich konzentrierten uns zuerst auf die gesamte Möbelkollektion, mit der Rolf Fehlbaum in den 1970er-Jahren begonnen hatte. Es handelte sich um eine relativ kleine Sammlung von 300 bis 500 Möbelentwürfen. Dann bereiteten wir die Eröffnung des Vitra Design Museums vor, indem wir zusätzliche Objekte für die Sammlung organisierten, fotografierten und erwarben. Damals gehörten wichtige Stücke von Charles und Ray Eames und George Nelson dazu, und auch einige italienische und skandinavische Entwürfe. Wir suchten auch nach einem Lager auf dem Vitra Campus, um die Sammlung in der Nähe des eigentlichen Museums aufzubewahren.

Wie war das mit den Entwürfen von Jean Prouvé? Stimmt es, dass der Antony das erste Stück in der Prouvé-Sammlung war?

Ja, das erste Prouvé-Objekt wurde von Rolf Fehlbaum in den 1980er-Jahren erworben. Es war ein Antony-Stuhl aus dem Jahr 1954 und er war bereits Teil der Sammlung, als ich dort anfing.

Wenn wir einige Jahrzehnte überspringen: Seit dem Ankauf des ersten Sammlerstücks ist die Sammlung des Vitra Design Museums mit insgesamt etwa 20.000 Objekten, davon rund 7.000 Möbel, zu einer der grössten Möbelkollektionen der Welt geworden. Sie haben eng mit Rolf Fehlbaum zusammengearbeitet, um dieses Archiv weiterzuentwickeln, zu welchem Artefakte und Dokumente des Eames Office ebenso gehören wie Nachlässe bedeutender Designer wie Alexander Girard, George Nelson und Verner Panton. Das muss eine unvergleichliche und sehr lehrreiche Erfahrung gewesen sein. Zur Prouvé-Sammlung: Wie wurde sie zur umfangreichsten Jean-Prouvé-Museumssammlung der Welt?

Es stimmt, dass die Jean Prouvé Collection des Vitra Design Museums die grösste Anzahl von unterschiedlichen Prouvé-Möbelstücken weltweit umfasst. Wir haben allerdings trotzdem nicht alle unterschiedlichen Typen oder Variationen jedes Typs. Es wird wohl niemals möglich sein, eine komplette Sammlung zu besitzen, weil es von vielen Prouvé-Möbeln oft eine grosse Anzahl von Varianten gibt. Die meisten Bestellungen bei den Ateliers Jean Prouvé waren Spezialanfertigungen und bezogen sich auf individuelle Anforderungen des jeweiligen Kunden. Der Stuhl Standard ist ein typisches Beispiel einer «Designevolution» von Prouvé. Diesen Typ gibt es in mehreren Varianten, Verfeinerungen und Anpassungen als Reaktion auf sich verändernde Anforderungen und Materialien. Alle orientieren sich jedoch an derselben strukturellen Idee. Im Vitra Schaudepot, das eine Dauerausstellung mit ausgewählten Entwürfen aus dem Archiv des Vitra Design Museums ist, visualisiert eine Zeitachse die Evolution dieses Stuhls anhand einer Vielzahl von historischen Modellen.

Der Ruhesessel Fauteuil Visiteur ist ein weiteres Beispiel der Evolution eines Entwurfs von Jean-Prouvé und wurde ebenfalls mit mehreren Modifikationsschritten weiterentwickelt. Wie viele Variationen besitzt das Vitra Design Museum Archiv?

Wir haben drei Varianten dieses Sessels: Einen Fauteuil Visiteur mit einer Rückenlehne aus Schichtholz und einem Sitz aus Aluminium, eine Variante mit Holzlamellen und einer verstellbaren Rückenlehne und schliesslich einen sehr seltenen Kangourou, der diese ausgeprägten, hölzernen Hinterbeine hat. Die Tatsache, dass Jean Prouvé den Sessel «Kangourou» nannte, verrät seinen feinsinnigen Humor. Ähnlich wie sein Namensvetter trägt die Sitzfläche das Gewicht auf den Hinterbeinen und wie auch bei anderen seiner Entwürfe reflektieren die Profile ihre statische Konstruktion. Um diese Zone zu verstärken, überspitzte Prouvé bewusst die Grösse des hinteren Rahmens und schuf eine Form, die den Flügeln eines Flugzeugs ähnelt. Dieses Profil findet sich in vielen seiner Designs und architektonischen Konstruktionen wieder.

Was ist die neueste Ergänzung der Jean Prouvé Collection?

Das ist ein kleiner Hocker. Er ähnelt dem Tabouret Solvay, hat allerdings einige eindeutige Unterschiede, wozu insbesondere die Verbindungsteile aus Metall gehören. Wie bereits erwähnt, versuchen wir die Sammlung so gut wie möglich zu komplettieren. Was die Objekte betrifft, die wir nicht besitzen, hören wir gelegentlich von einzigartigen Stücken, bevor diese auf den Markt kommen. Allerdings würden wir sie bei dem momentanen Preisniveau wahrscheinlich sowieso nicht erwerben.

Ja, in der Tat. In den letzten 20 Jahren sind die Beliebtheit und die Kosten für Sammlerstücke von Jean Prouvé stark gestiegen. Wie unterscheidet sich das Vitra Design Museum von den Galerien und Auktionshäusern?

Die Jean Prouvé Collection des Vitra Design Museums dient Forschungszwecken und Ausstellungen. Die Objekte werden also nicht weiterverkauft. Jean Prouvé war einer der wichtigsten Designer des 20. Jahrhunderts und seit vielen Jahren ist sein Werk nun schon ein Hauptfokus des Museums. Die Galerien und die meisten Sammler kaufen ihre Stücke hingegen als Geldanlage, um sie dann wieder zu verkaufen.

Haben Sie das Gefühl, dass sie ein besseres Verständnis für den Mensch Jean Prouvé erlangt haben, nachdem Sie sich bei Ihrer Arbeit mehrere Jahrzehnte lang mit dessen Entwürfen auseinandergesetzt haben?

Ja, Prouvé entwarf die meisten seiner Möbel für Universitäten, Schulen und soziale Einrichtungen – und das sagt bereits sehr viel über ihn als Mensch aus. Viele dieser Entwürfe wurden später weiterentwickelt und für den Wohnmöbelmarkt hergestellt. Jean Prouvé war sozial eingestellt. Er nannte sich selbst einen «Homme d’usine», einen Fabrikarbeiter, und zog es vor, direkt an den Maschinen in der Werkstatt, Seite an Seite mit seinen Mitarbeitern, zu arbeiten. Während des Zweiten Weltkriegs vergrösserte sich die Belegschaft der Ateliers Jean Prouvé auf 200 Mitarbeiter. Man sagt, dass sich der Verlust seiner Werkstatt in den 1950er-Jahren für ihn so anfühlte, als hätte er seine beiden Hände verloren.
Das Vitra Design Museum ist eine von Vitra unabhängige Stiftung. Die umfangreiche Sammlung von Designobjekten bildet die Grundlage für Ausstellungen, Publikationen und Forschungsprojekte über weit mehr als das Portfolio von Vitra und den mit dem Unternehmen verbundenen Designern und Architekten.

Die Museumssammlung spielt eine wichtige Rolle für die Gesamtidentität von Vitra und hat einen deutlichen Einfluss darauf, wie das Unternehmen an die Entwicklung und Kommunikation seiner Klassiker zeitgenössischen Entwürfe herangeht. Die Sammlung ist für die Mitarbeiterinnen und Designer von Vitra eine Inspirationsquelle und die Möglichkeit, immer weiter dazuzulernen.

Veröffentlichungsdatum: 9.6.2022
Autor: Stine Liv Buur
Bilder: Vitra

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