Der Einzelschreibtisch hat ausgedient

Interview mit Raphael Gielgen

Alle reden über den Arbeitsplatz der Zukunft. Kaum jemand kann mehr über ihn berichten als Raphael Gielgen. Unser «Future of Work Trendscout» reist um die Welt und besucht ungefähr 100 Büros und Unternehmen im Jahr. Dearwork hat ihn auf dem Campus interviewt.

Raphael, du beschreibst dich selbst als Satellit, schwirrst umher und störst die Kollegen mit Informationen. Die entwerfen auf Basis dieser Informationen den Arbeitsplatz der Zukunft. Wie sieht der aus?

Den einen Arbeitsplatz der Zukunft wird es nicht geben. Das Zweimannbüro mit Grünpflanze und Kalender wird genauso existieren, wie das Büro in der virtuellen Realität. Das heisst, wir können uns auf die komplette Bandbreite einstellen. Und aus dieser Bandbreite werden die Menschen wählen können. Bei Vitra gehen wir dennoch davon aus, dass Einzelschreibtische, wie wir sie aktuell benutzen, die letzten ihrer Art sind.

Weil?

Weil am Einzelschreibtisch keine neuen Werte mehr entstehen. Das Kollektiv entscheidet zukünftig über die Relevanz eines Unternehmens. Es gibt auch nicht mehr das eine Genie. Vielleicht noch vereinzelt. Doch selbst die Genies, die ich kennengelernt habe, haben nur Bedeutung übers Kollektiv, über die Verbindung ihres Wissens und ihrer Disziplin mit anderen.
«Baut man ein Unternehmen nur auf Rebellen auf, fliegt einem der Laden um die Ohren.»

Was bedeutet das für den Schreibtisch?

Das bedeutet, dass weder der Schreibtisch noch der Schreibtischstuhl das Möbel am Arbeitsplatz der Zukunft sind. Die kollektiven Bereiche machen das Rennen. Zum einen sind das so genannte Transitzonen wie Eingangshallen, Durchgangsbereiche oder Caféküchen. Dort geht es um zufällige und spontane Begegnungen, die uns eine besondere Energie geben und ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. Zum anderen sind das die kollektiven Arbeitsbereiche wie die kreative Werkstatt, wo kreative Prozesse räumlich verortet werden. Dort geht man hin, um an einer bestimmten Fragestellung zu arbeiten. Man teilt sein Wissen, und daraus entsteht etwas Neues.

Bedeutet das, die herkömmlichen Büroformen, wie wir sie kennen, werden ganz verschwinden?

Verschwinden wird erst einmal nichts. Wir haben kürzlich die letzte Steinkohle in Prosper-Haniel gefördert. Wie lange haben wir auf das Ende gewartet? 20 Jahre! Genauso ist es mit der Arbeit. Auf der einen Seite gibt es die, die auf der Internationalen Raumstation ISS arbeiten, auf der anderen Seite die, die neben einem Gummibaum sitzen und tagein tagaus der gleichen Arbeit nachgehen. Das ist das Spektrum. Und das wird noch weiter auseinanderdriften.
«Arbeit vor dem Computer ist in der Regel unsichtbar. Jedes Unternehmen kann Architektur anders denken und versuchen, Arbeit sichtbar zu machen und die Gemeinschaft zu verorten.»

Genau dieses Spannungsfeld braucht es sogar innerhalb einer Firma, sagst du. Es braucht den Progressiven und den Bewahrer. Warum eigentlich?

Baut man ein Unternehmen nur auf Rebellen auf, fliegt einem der Laden um die Ohren. Das Bewahrende sowie das Rebellische hat seine Stärken. Das Bewahrende gibt Orientierung, Halt, Sicherheit, Beständigkeit. Das Rebellische bringt Innovation, Neugier, den Mut andere Wege zu gehen. Idealerweise kombiniert man beides miteinander.

Du sagst: «Jedes Unternehmen kann Architektur anders denken und versuchen, Arbeit sichtbar zu machen und die Gemeinschaft zu verorten.» Was heisst das, wie geht das, warum ist das wichtig?

Arbeit vor dem Computer ist in der Regel unsichtbar. Der Sitznachbar lernt nicht von dem, der ausschliesslich in seine Maschine spricht. Die Full Service Digitalagentur R/GA in New York hat das beispielsweise erkannt und in ihrem neuen Headquarter Arbeit sichtbar gemacht: Im Mitarbeiter-Restaurant hängen oben an der Decke 32 riesige Screens mit Laserprojektion. Da können alle ihre Arbeit präsentieren. Was wurde gerade für Chrysler oder Nike gemacht? Wer arbeitet an welchem Auftrag? Auf einmal nimmt man an den Projekten der anderen teil, fühlt sich zugehörig und die Arbeit der unterschiedlichen Teams wird sichtbar.

Und weiter gefragt: Wie verortet man Gemeinschaft?

Und weiter gefragt: Wie verortet man Gemeinschaft?
«Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das beim Betreten des Gebäudes, beim Gespräch mit der Führung, im Umgang der Mitarbeiter untereinander.»

«Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das beim Betreten des Gebäudes, beim Gespräch mit der Führung, im Umgang der Mitarbeiter untereinander.»

Jede Firma hat kulturelle Rahmenbedingungen, sie sind vielschichtig und immer individuell. Hat ein Unternehmen sein Cultural Framework definiert, spürt man das beim Betreten des Gebäudes, beim Gespräch mit der Führung, im Umgang der Mitarbeiter untereinander. Eine Unternehmenskultur hingegen wird oft auf einfache Werte wie Vertrauen oder Loyalität reduziert, die losgelöst voneinander funktionieren. Die kulturellen Rahmenbedingungen sind weitreichender. Sie funktionieren wie eine Anleitung für die Unternehmensarchitektur. Alles greift ineinander.

Hast du Beispiele für uns?

Wer den Adidas-Campus bei Herzogenaurach betritt, spürt sofort den Sport, das Performative, die Gemeinschaft. Es gibt Meeting-Areale, da hat man das Gefühl, man sei in einer Schiedsrichterkabine vom Eishockey oder in einem Workout-Raum einer Football Mannschaft. Oder PriceWaterhouseCoopers – die haben mittlerweile weltweit ihre Experience Center, mit denen sie einen neuen architektonischen Zugang zum Grossraumbüro bieten und die flexibel umgestaltet werden können: verschiebbare Wände und Möbel für kollaborative Bedürfnisse. Oder Amazon in Seattle: Im Januar eröffnete Jeff Bezos drei grosse Gewächshäuser im Zentrum der Stadt. Bezos wusste schon vor Jahren etwas, was den meisten von uns nicht klar war: Dass die Menschen wieder einen starken Bezug zur Natur entwickeln würden. Diesen bietet er jetzt seinen Mitarbeitern. Seit dem ersten Eröffnungstag sind alle Gewächshäuser sehr gut besucht. Die Leute gehen zum Kaffeetrinken aus dem 29. Stockwerk ihres Amazon-Büros kurz herunter, über die Strasse, ins Gewächshaus.

Du sagst, die deutsche Architektur war lange eine Architektur der Kontrolle. Inwiefern kann Architektur kontrollieren?

Das fängt schon damit an, wo man sitzt. Welche Etage, wie gross ist die Fläche? Wer beim Autobauer in der Konzernzentrale seinen Schreibtisch hat, hat oft automatisch das Gefühl, was zu melden zu haben, egal ob dem wirklich so ist. Wer von seinem Arbeitsplatz aus alle beobachten und dabei sehen kann, wenn sich einer rausschleicht, hat auch eine gewisse Kontrolle. Und wenn der Raum deiner Gedanken 16 Quadratmeter gross ist, dann kontrolliert der Raum dich, denn dann endet dort alles, was du denkst.

Ist es eigentlich wirklich so wünschenswert, in fabelhaft individuell ausgestalteten Räumen zu arbeiten? Wenn auf alle möglichen Bedürfnisse von mir eingegangen wird, bin ich vielleicht bereit, das, was ich wirklich will, zu vernachlässigen. Kurz gefragt: Verleiten die Räume zu Mehrarbeit und Überlastung?

Ein schönes Büro ist doch nicht dafür verantwortlich, dass die Menschen länger hackeln! Das kommt eher durch sozialen Druck. Der Gegenentwurf wäre ja: Halb so lang arbeiten, aber dafür in hässlichen Räumen. Man kann tolle Räume haben, aber wenn die unternehmerische Fürsorge nicht gegeben ist, hat auch alles andere keinen Wert. In der Prioritätenliste ganz oben sollte deshalb die Wertschätzung der einzelnen stehen, niemand sollte das Gefühl erhalten, er sei nur eine Ressource.
Dieses Interview ist zuerst auf dearwork.de erschienen – das Online-Magazin begleitet den Wandel der Arbeitswelt durch die persönlichen Geschichten seiner Akteure, Expert*innen-Interviews und Events.

Veröffentlichungsdatum: 20.2.2020
Autor: Franziska Klün & Anna Volquardsen / DEARWORK
Bilder: DEARWORK

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