Maison Jean Prouvé

Ein Gespräch mit Catherine Prouvé

Das Maison Jean Prouvé hat die Architektur des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. Das Haus, das Jean Prouvé 1954 für sich und seine Familie gebaut hat, besteht im Wesentlichen aus von seiner eigenen Firma, den Ateliers Jean Prouvé, vorgefertigten Modulen.

Das Baugrundstück lag an einem bewaldeten Hang über Nancy, der Heimatstadt von Jean Prouvé und seiner Frau Madeleine, in der heutigen Region Grand Est. Die jüngste Tochter des Paares, Catherine Prouvé, war damals kaum 14 Jahre alt. Sie erinnert sich aber noch lebhaft an den Trubel in jenem Frühling, in dem das Haus entstand – besonders an die arbeitsreichen Wochenenden, wenn Verwandte, Freunde und Angestellte aus den Ateliers Jean Prouvé mit Hand anlegten.

Catherine Prouvé: Meine Mutter wünschte sich schon seit Jahren ein eigenes Haus, aber als es dann so weit war, ging alles ganz schnell. Da alle mithalfen – Verwandte, Freunde, Kollegen – wurde unser zukünftiges Zuhause in nur wenigen Monaten fertiggestellt. Im Wesentlichen bestand es aus Bauteilen im Restbestand der alten Firma meines Vaters, den Ateliers Jean Prouvé. In vielerlei Hinsicht war das damals eine glückliche Zeit, obwohl mein Vater gerade aus seiner Firma ausgeschieden war. Für ihn war das aber natürlich sehr schwierig.

Warum hat Ihr Vater seine bisherige Wirkungsstätte überhaupt verlassen?

CP: Die erste Kunstschlosserei meines Vaters entstand Mitte der 1920er-Jahre in Nancy; es folgte eine zweite Firma, die dann in ein grösseres Gebäude umzog. Die grosse Fabrik, ein paar Kilometer nördlich von Nancy in Maxéville gründete er 1947. Das war eine Art Pilotprojekt, denn alle Architekten, Arbeiter und Vorarbeiter der Firma waren Mitglieder einer Genossenschaft. Auch die Architekten hatten ihren Standort auf dem Fabrikgelände und alle arbeiteten auf Augenhöhe zusammen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich eine sehr fruchtbare Arbeitsatmosphäre. Die Mitarbeiter wussten einander zu schätzen, auch fachübergreifend, und dadurch war die Firma sehr innovativ, denn die Kreativen arbeiteten frei und ungezwungen mit denen zusammen, die ihre Ideen umsetzten. Der Wettstreit, der dabei entstand, blieb stets freundschaftlich. Das alles trug zum guten Ruf der Ateliers Jean Prouvé bei, die für Originalität und Wertarbeit bekannt wurden.

Als das Unternehmen Aluminium Français 1953 Mehrheitsaktionär der Firma wurde, zeigte sich leider, dass die neuen Investoren überhaupt nicht verstanden hatten, dass dieser Geist die Arbeit der Firma trug und die in den Werkstätten angewandten Methoden wirklich gut funktionierten. Sie hatten nur einen «Stil» erkannt, der ihnen für bestimmte Gebäudetypen wirtschaftlich vielversprechend erschien, und sie wollten die verschiedenen Menschen, die in der Fabrik zusammenarbeiteten, versetzen. Im Juni 1953 warf mein Vater dann schliesslich die Arbeit hin, denn unter diesen Umständen war es einfach nicht möglich, die interdisziplinäre Arbeitsweise aufrecht zu erhalten, die er entwickelt hatte und die ihm so wichtig war. Er sagte damals: «Innovation ist nur gemeinsam möglich … Man tut im Leben nichts allein. Arbeit ist immer Zusammenarbeit.» Sein Freund Le Corbusier sagte damals: «Sie haben deine Bäume gefällt, jetzt mach‘ etwas daraus.»

Während der Arbeit am Haus hatte Ihr Vater also gar keinen Zugang mehr zu den Ateliers Jean Prouvé?

CP: Genau. Deswegen besteht das Haus zum Grossteil aus Restbeständen. Was er sonst noch brauchte, musste mein Vater wie jeder andere Kunde der Ateliers Jean Prouvé bestellen. Das Haus veranschaulicht ganz wunderbar, was er mit einfachsten Mitteln alles erreichen konnte. Trotz der schwierigen Bedingungen genoss das Maison Jean Prouvé unter Architekten und Designern schon bald hohes Ansehen. Die französische und internationale Fachpresse lobte es als besonders komfortabel, sparsam und flexibel.

Mein Vater sagte einmal: «Mein Traumhaus kommt aus der Fabrik». Damit meinte er die Industrialisierung des Wohnbaus durch die Verwendung vorgefertigter Elemente. Als wir damals unser Wohnhaus bauten, hatte er bereits verschiedene demontierbare Fertighäuser entworfen und errichtet. Jetzt war sein eigenes Haus an der Reihe.

Erzählen Sie uns doch, wie das Haus gebaut wurde.

CP: Die Bauzeit erstreckte sich von 1953 bis in den Sommer 1954. Zuerst kamen die Erdarbeiten, denn das Fundament musste in den Hang hineingegraben werden. Mein Vater arbeitete neuerdings in Paris und konnte daher nur am Wochenende an dem Haus bauen. Schon bald zeigte sich aber, dass seine ehemaligen Mitarbeiter sonntags bei uns auftauchten, um ihrem alten Chef zu helfen. Ein wunderbarer Freundschaftsbeweis: Sie legten die Jacken ab, krempelten die Ärmel hoch und packten mit an.

In der Familie waren die Aufgaben klar verteilt. Meine Eltern hatten einen amerikanischen Jeep mit Allradantrieb; damit brachte mein Bruder die Bauteile ans obere Ende des Grundstücks. Mein Cousin war für die Paneele zuständig, meine Mutter für die Getränke. Meine Aufgabe bestand darin, die Schrauben zu sortieren und das Grundstück einigermassen in Ordnung zu halten. Wenn ich nach dem Wochenende wieder in die Schule kam, erzählten meine Klassenkameraden von ihren Abenteuern, Wanderungen oder Ausflügen; ich konnte nur erzählen, dass ich Muttern und Schrauben für unser neues Haus sortiert hatte. [Catherine lacht]

Im Mai und Juni konnten wir drei Wochen lang ohne Unterbrechung an dem Haus arbeiten. Danach war die Aussenhülle fertig. Noch bevor das Haus fliessendes Wasser hatte und bevor die Innenwände standen, zogen wir ein. Meine Mutter konnte es nicht mehr erwarten, und ausserdem mussten wir aus unserer bisherigen Wohnung – einem kleinen Appartement in Nancy – heraus. Die ersten Nächte im neuen Haus schliefen wir also in einem riesigen offenen Raum.

Wie lebte es sich in dem Haus?

CP: Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein eigenes Zimmer, das fand ich toll. Das ganze Haus besteht aus Modulen von jeweils einmal einem Meter, und mein Zimmer war genau drei mal zwei Meter gross. Das war genau die richtige Grösse für ein Kinderzimmer. Die Möbel hatte mein Vater mit grosser Sorgfalt entworfen: ein schlichtes Einer-Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Wandregal. Mein Kleiderschrank war in dem 27 Meter langen Einbauschrank, der sich die ganze Rückwand des Hauses entlangzog. Dadurch hatten wir alle viel Stauraum und die Nordseite war auch etwas isoliert. Mein Vater hatte an alles gedacht, es gab für alles einen Platz. Sogar eine kleine Telefonzelle war in den Einbauschrank integriert.

Die verschiedenen Bereiche im Haus sind unterschiedlich breit. Der grösste Raum ist das Wohnzimmer, das nach Süden schaut. Mein Vater nannte es «l‘auberge». Dieser Raum war ihm sehr wichtig, denn wir waren eine sehr gesellige Familie und hatten oft Besuch. Die meiste Zeit verbrachten wir hier. Mein Vater hatte einen grossen Lautsprecher installiert, denn er hörte gern Musik, besonders Bach. Oft erhöhte er die Lautstärke und meine Mutter drehte sie dann wieder herunter. Ich hörte gerne Rock ’n‘ Roll und tanzte dabei um die Stange in der Mitte der «auberge» herum, die mit dem Dach des Hauses verbunden war.
Als Baumaterial kamen vor allem Stahl, Holz und etwas Aluminium zum Einsatz. Die Wände waren aus Holz, aus dem die rahmenlosen Schlafzimmertüren einfach herausgesägt wurden. Dadurch hatten sie abgerundete Ecken, wie auf einem Schiff. Solche Details machten das Haus sehr gemütlich und wohnlich.

Für die Rückwand des Wohnzimmers entwarf mein Vater ein flexibles Regalsystem, das sich in die Stahlmodule einfügte. Die Regalbretter waren aus weiss gestrichenem Metallblech, das er mit blau angemalten Elementen und Holz kombinierte. Die Schranktüren waren aus Riffelblech.
Zur Küche hin liess mein Vater im Wohnzimmer eine Stelle offen, so dass das Erdreich frei lag. Die Dattelpalme, die dort heute wächst, entstand aus Dattelkernen, die wir da einmal hineinwarfen. Eines Tages keimten sie! Wir liessen sie wachsen, und es wuchs ein grosser Baum heran, den wir mehrmals zurückschneiden mussten. Heute ist er Teil der Geschichte des Hauses.

Wie lange haben Sie im Maison Jean Prouvé gelebt?

CP: Bis ich 18 war. Dann ging ich mit einem Stipendium des American Field Service im Rahmen des Marshallplans für ein Jahr in die USA. Als ich zurückkam, lebte ich für kurze Zeit nochmal dort, aber schon bald zog ich nach Paris, wo ich Kunstgeschichte studierte.

Mein Vater starb 1984. Nach dem Tod unserer Mutter wollte von uns Geschwistern keines in das Haus zurück. Unser Vater war in Nancy sehr bekannt, wir wollten aber ein eigenständiges Leben führen und nicht ständig auf der Strasse angesprochen werden. Daher verkauften wir das Haus an die Stadt Nancy. Heute kümmert sich das Musée des Beaux-Arts darum. Im Sommers gibt es jeden Samstag eine Führung.

Es ist mir eine grosse Freude, dass unser Haus auch heute noch ein Quell der Inspiration für kommende Generationen sein kann.

Veröffentlichungsdatum: 25.08.2022
Autor: Stine Liv Buur
Bild: 1-2+4-8: 2022, ProLitteris, Zürich, Foto: Dejan Jovanovic; 2: Vitra; 9: Jean Prouvé in the living room of his house in Nancy, France © ADAGP © Centre Pompidou, MNAM-CCI Bibliothèque Kandinsky, Dist. RMN-Grand Palais/Fonds Prouvé; 10: Simone Prouvé, third child of Jean Prouvé reading in front of the house in Nancy, France © ADAGP, © Centre Pompidou, MNAM-CCI Bibliothèque Kandinsky, Dist. RMN-Grand Palais/Fonds Prouvé. Photo : Jean Prouvé; 11-13: Vitra;


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