Da haben sie erkannt, was das Material alles kann

Manfred Diebold, Rolf Fehlbaum und Thomas Schweikert im Gespräch mit Jochen Eisenbrand

In der grossen Ausstellung «Plastik. Die Welt neu denken» untersucht das Vitra Design Museum in Weil am Rhein die Geschichte des einst revolutionären und heute so umstrittenen Materials Plastik. Zugleich bietet es eine Plattform für den Diskurs über den heutigen Umgang mit Kunststoffen, den Abfall der dadurch entsteht, und neue Lösungsansätze, die den gesamten Lebenszyklus von Produkten und Materialien berücksichtigen. Das folgende Interview stammt aus dem dazugehörigen Ausstellungskatalog.

Herr Fehlbaum, Welche Gedanken verbinden Sie mit Kunststoffen, wenn Sie an die Möbelproduktion der 1950er- und 1960er-Jahre denken?

Rolf Fehlbaum: Eine Aufbruchstimmung. Die Vorstellung, man könne jetzt mit diesem nach allen Richtungen verformbaren Material Objekte schaffen, von denen man bisher nur träumte, war sehr verlockend, barg aber auch die von Charles Eames angemerkte Gefahr, dass man eben alles Mögliche machen kann, auch das nicht Notwendige, das Willkürliche. Dass Kunststoff aus ökologischen Gründen problematisch sein könnte, kam uns damals nicht in den Sinn. Es war einfach ein fantastisches neues Material.

Kunststoffe haben ja bereits in den Anfängen des Unternehmens Vitra durchaus eine Rolle gespielt.

Rolf: Mein Vater war kunststoffaffin. In seinem Ladenbauunternehmen wurden Plexiglasbüsten produziert, auf denen Kleidung präsentiert wurde. Plexiglas konnte man mit geringen Werkzeugkosten und ohne aufwendige Maschinen durch Erwärmung verformen. So entstand auch 1952 bei Vitra ein Plexiglas-Stuhl mit Hans-Theo Baumann. Aber eigentlich eignet sich Plexiglas nicht für den Möbelbereich, weil es Staub anzieht und nicht kratzfest ist.

Herr Diebold, Sie haben die Entwicklung von Möbeln aus Kunststoff bei Vitra seit den frühen 1960er-Jahren begleitet. Wie sind Sie dazu gekommen?

Manfred Diebold: Ich habe Anfang der 1950er-Jahre bei dem Unternehmen Raymond meine Lehre gemacht und war dann dort als Werkzeugmacher angestellt. Irgendwann bekam ich die Aufgabe, die ersten Werkzeuge für die Produktion von Kunststoffteilen für die Automobilindustrie zu bauen. Danach wechselte ich zur Firma Stara-Werke in Lörrach. Dort wurden Blumenkästen und Töpfe aus Styropor hergestellt. Zu den Aufträgen gehörten auch Dekorationsbüsten für Vitra. Das war meine erste Verbindung zu Vitra.

Und 1962 haben sie dann bei Vitra angefangen.

Manfred: Zu meinen ersten Aufgaben dort gehörte es, eine eigene Styropor-Fertigung aufzubauen und beim Aufbau einer eigenen Kunststoffproduktion zu helfen. Willi Fehlbaum wollte, soweit es ging, von Lieferanten unabhängig sein. Nach und nach wurden alle Maschinen zur Kunststoffproduktion angeschafft: Spritzgussmaschine, Extruder, Maschinen zum Tiefziehen. Schliesslich hatten wir auch eine grosse Maschine, um ganze Körper von Schaufensterpuppen zu blasen. Möbel kamen erst später dazu.

In der Unternehmensgeschichte von Vitra war die Zusammenarbeit mit Charles und Ray Eames ein entscheidender Wendepunkt. Auch hier spielte Kunststoff, glasfaserverstärkter Polyester, eine wichtige Rolle.

Rolf: Glasfaserverstärkter Polyester kann handwerklich verarbeitet werden, etwa bei der Produktion von Bootsrümpfen. Mit dem Verfahren, das Charles Eames mit der Firma Zenith entwickelte, konnte die Eames-Stuhlschale in Grossserien hergestellt werden. Die Spritzgusstechnologie der 1960er-Jahre, bei der Polypropylen eingesetzt wurde, war ein weiterer Schritt in der Industrialisierung. Wir haben Charles auch mal gefragt, ob er einen Polypropylen-Stuhl entwerfen würde. Aber irgendwie wollte er nicht. Da Polypropylen nicht die statischen Eigenschaften von glasfaserverstärktem Polyester aufweist, hätte man beim damaligen Stand der Technik die seitlichen Ränder deutlich grösser dimensionieren müssen. Das gefiel Eames nicht.

Ausserdem schätzte er die Lebendigkeit, die durch den etwas unregelmässigen Verlauf der leicht sichtbaren Glasfasern beim glasfaserverstärkten Polyester entsteht. Dies fällt beim Einsatz von Polypropylen weg. Übrigens ist mir kürzlich Paul Scheerbarts Buch Glasarchitektur in die Hände gekommen. Da bin ich auf folgende Stelle über «Die Glashaare im Kunstgewerbe» gestossen: «Dass sich Glas auch zu spinnbaren Haaren ausbilden lässt, ist von vielen vergessen worden. […] Diese Glashaare könnten im Kunstgewerbe eine ganz neue Industrie erzeugen, Diwandecken, Sessellehnen usw. sind aus Glashaaren möglich.» Im Grunde wird hier schon von dem Glas gesprochen, das wir dann viel später im Fiberglas genutzt haben. Scheerbart fordert 1914 die Industrie zum Umdenken auf: «Die Zukunftsstuhlindustrie, die ja leider, wie mir sehr wohl bekannt ist, momentan noch nicht besteht, sei lebhaft auch auf die Glashaare hingewiesen. Dann sollten nur noch feuersichre imprägnierte Stoffe verwendet werden – auch im Diwan und im Bodenbelag. Auch hier werden die Glashaare das wichtigste Material sein.»

Wie wurde das technische Know-how für die Produktion der Fiberglasschalen aus den USA nach Weil transferiert?

Manfred: Nach Willi Fehlbaums Verhandlungen mit der Firma Herman Miller und der Lizenz für die Produktion der Eames-Schalen aus glasfaserverstärktem Polyester wurde ich nach Santa Monica geschickt, zur Firma Zenith, und Saul Fingerhut hat mich betreut. Hier konnte ich lernen, wie die Produktionsverfahren funktionieren und worauf es ankommt.

Auch die ersten Modelle des Panton Chairs, der bei Vitra entwickelt wurde, wurden aus glasfaserverstärktem Polyester hergestellt.

Manfred: Ja, allerdings wollte Panton anders als Eames eben nicht, dass man diese Struktur sieht. Die Oberfläche des Panton-Stuhls sollte ganz glatt sein. Den ersten Stuhl haben wir ein Jahr lang modelliert. Panton war ja ein Nachtmensch, der kam immer, wenn es dunkel wurde, zu mir und dann hat er das Modell mit Lampen ausgeleuchtet, so konnte er die Verformungen und Änderungen besser sehen. Auch die ersten Modelle, die 1967 in der Zeitschrift Mobilia vorgestellt wurden, waren noch alles Handmuster aus glasfaserverstärktem Polyester. Ich hatte ja 25 Personen für die Mannequin-Fertigung, da wurden auch Figuren in einer einzigen Form hergestellt. Daher hatten wir das Know-how, aber die Herstellung war sehr zeitaufwendig.

Dann haben Sie das Polyurethan Baydur als Alternative entdeckt.

Manfred: Ja, auf der Kunststoffmesse in Düsseldorf, dort wurde eine Motorhaube aus dem Material gezeigt. Also hat mich Willi Fehlbaum beauftragt, zu Bayer zu fahren und mich danach zu erkundigen. Dort berichtete ich von unserer Produktidee, dem Panton Chair. Man erklärte mir, man brauche eine Aluminium- oder Stahlform, in die hineingespritzt werde, damit darin zwei Komponenten miteinander reagieren. Ausserdem müsste man die Form heizen und anschliessend kühlen können. Vier Wochen später hatte ich eine Kunststoffform gebaut und fuhr wieder zu Bayer. Wegen des Drucks hatte ich einige Klammern in die Form eingebaut, aber als wir das Baydur hineingeschossen haben, mussten wir in Deckung gehen. Das ist überallhin gespritzt – der Druck war viel zu hoch! Dann haben wir die Form geputzt und sie anschliessend rundum verschraubt. Beim zweiten Schuss war alles dicht und es kam ein Stuhl heraus, auf dem man sitzen konnte: Da haben sie bei Bayer erst erkannt, was das Material alles kann. Ab 1968 haben wir den Panton Chair in Serie produziert. Allerdings musste jeder einzelne noch geschliffen, gespachtelt und dann lackiert werden.

Das heisst, das war noch viel Handarbeit.

Manfred: Ja und damit stellte sich die Frage: Wie können wir sehr grosse Stückzahlen herstellen? Denn die Nachfrage kam richtig in Schwung. Dann kam BASF auf uns zu: «Wir glauben, dass wir den Stuhl im Spritzguss herstellen können, aus Luran.» Also haben wir einen Prototyp gebaut, die Festigkeit getestet und schliesslich gesagt, wir riskieren das. Obwohl die Alterungsbeständigkeit dieses Polystyrols noch eine Unbekannte war. Diese Version wurde ab 1971 produziert.

Mit dem durchgefärbten Luran fiel bei der Produktion des Panton Chair die aufwändige Nachbearbeitung weg. Ein Hinweis darauf, dass ein Motiv für die Herstellung von Stühlen aus Kunststoff neben den gestalterischen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, auch die niedrigen Produktionskosten waren, jedenfalls für grosse Stückzahlen.

Rolf: In dieser Hinsicht hat Robin Day Anfang der 1960er-Jahre mit seinem Stuhl für Hille einen wichtigen Schritt gemacht. Dessen Schale wurde im Spritzgussverfahren aus Polypropylen hergestellt. Damit war der Stuhl sehr günstig und hat den Markt aufgewirbelt. Man könnte fast sagen, es war das Ende des Eames Fiberglass Chair als echter Massenstuhl, für die Bestuhlung von Hallen und Auditorien. Ein weiterer Entwicklungsschritt war dann in den 1970er-Jahren der Vollkunststoffstuhl, der Monobloc aus einem Guss. Ich war von dem, was dieser Billigstuhl kann, fasziniert. Er kann ja recht komfortabel sein, auch weil er so ein bisschen wackelig und nachgiebig ist. Aber mit dem Preis als einziger Massgabe kam miese Qualität heraus. Der Monobloc wurde zu einem Stuhl, der schon bald unansehnlich aussieht und nach einer Weile auf der Schutthalde landet. So eingesetzt ist Kunststoff ökologisch problematisch, während die Verwendung bei Produkten, die wie der Eames-Schalenstuhl oder der Panton-Stuhl Jahrzehnte im Einsatz sind, ökologisch durchaus vertretbar ist.

Wenn wir nun auf die Rolle von Kunststoffen in der heutigen Möbelproduktion schauen, sind die Herausforderungen ganz andere. Thomas, du bist bei Vitra in der Abteilung Products für Nachhaltigkeit verantwortlich. Womit beschäftigst du dich hinsichtlich Kunststoffen?

Thomas Schweikert: Ich hatte zunächst die Aufgabe, mit meinem Team Bio-Kunststoffe zu untersuchen. Was muss ein Bio-Kunststoff können? Was wäre wünschenswert und was sind Ausschlusskriterien? Dazu haben wir eine breite Recherche durchgeführt und eine Bewertungsmatrix angelegt, mit Faktoren wie Rohstoff, Verfügbarkeit, Preis, Recyclingfähigkeit, Prozessfähigkeit, mechanische Eigenschaften usw. Eine Verarbeitbarkeit an einer normalen Spritzgussmaschine war zum Beispiel hoch bewertet, denn wäre das nicht möglich, müssten hohe Investitionen getätigt werden. Die Einfärbbarkeit war niedriger bewertet, denn ein Biokunststoff muss ja nicht genauso aussehen wie einer, der auf Erdöl basiert.

Kunststoffe, die aus Pflanzen hergestellt werden, die in Konkurrenz zu Lebensmitteln auf landwirtschaftlichen Flächen angebaut werden, haben wir für uns ausgeschlossen. Und so haben wir diese Matrix nach und nach befüllt. Als wir sie dann am Ende ausgewertet haben, blieb kein Material übrig, das uns für eine Verwendung für langlebige Möbelkomponenten geeignet schien. Letztlich haben wir uns trotzdem entschieden, drei unterschiedliche Materialien auszuprobieren, um praktische Erfahrung zu sammeln. Das waren dann allerdings keine biologisch abbaubaren Materialien, sondern zwei Polyethylene, die aus Abfällen der Zuckerrohrverarbeitung hergestellt werden, bzw. ein Polyamid aus Rizinusöl. Leider waren die Ergebnisse nicht befriedigend, deshalb haben wir vorerst von der Verwendung der Bio-Kunststoffe abgesehen. Aus dieser Erfahrung heraus war für uns klar, dass unser Weg eigentlich eher Richtung Kreislaufwirtschaft und Recycling gehen muss, also dahin, den hochwertigen Kunststoff, der aus Erdöl gewonnen wird, so lange wie möglich im Kreislauf zu halten.

Wie sieht es da mit den Unterschieden in der Materialqualität aus?

Thomas: Grundsätzlich kann man sagen, je diverser das Material, aus dem das Rezyklat besteht, desto weniger kann man die Eigenschaften auch genau definieren. Bei vielen hochwertigen PIR-Qualitäten [Post-Industrial-Rezyklat] ist das Vormaterial nahezu sortenrein, damit sind auch die Eigenschaften des Materials recht stabil. Im Bereich der PCR [Post-Consumer-Rezyklate] ist das etwas schwieriger. Eine wertvolle Quelle ist in Deutschland der «Gelbe Sack», in dem Kunststoffverpackungen gesammelt werden. Da hier aber unterschiedliche Arten von Kunststoffen enthalten sind, müssen diese im Recyclingprozess nach Kunststoffart und idealerweise nach Farbe sortiert werden. Hier ist es entscheidend, mit Firmen zusammenzuarbeiten, die diesen Prozess beherrschen.

Damit ihr es für die Möbelproduktion verwenden könnt, muss das Post-Consumer Rezyklat compoundiert werden. Was heisst das?

Thomas: Der reine Kunststoff muss für die Verarbeitung optimiert werden und seine Eigenschaften müssen so beeinflusst werden, dass er für langlebige, hochwertige Möbelkomponenten geeignet ist. Bei der Compoundierung wird das Regranulat aufgeschmolzen, mit Additiven versehen und dann wieder granuliert. So können die UV-Stabilität, das Fliessverhalten und die mechanischen Eigenschaften verbessert sowie dem Kunststoff die gewünschten Farben gegeben werden. Oft werden dem Kunststoff Fasern aus Glas hinzugefügt. Diese Glasfasern verleihen ihm mehr Stabilität, Druck-, Zug- und Kratzfestigkeit. Das ermöglicht uns, in der Konstruktion wesentlich dünnere Querschnitte bei besserer Stabilität zu realisieren und dabei noch Kunststoff zu sparen.

Fallen bei eurer Produktion denn noch Kunststoffabfälle an?

Thomas: Wir achten bei unseren Lieferanten stark darauf, dass kein Kunststoff zum Müll wird. Unsere Hersteller mahlen sogar Schlechtteile, Overflows oder Angussteile selbst wieder ein und fügen das dem Material für den nächsten Spritzgussprozess wieder zu. Das kann man aber nur bis zu einem gewissen Grad machen, weil das Material durch den ersten Spritzgussprozess auch geschädigt werden kann. Bei statisch hoch belasteten Bauteilen wird das daher nur in geringem Umfang gemacht. Alles, was nicht eingemahlen wird, wird gesammelt und einer Recyclingfirma zur erneuten Aufbereitung weitergegeben.

Ist Plastik in der Möbelbranche auch künftig ein sinnvolles Material?

Thomas: Wir sind der Überzeugung, dass Kunststoff als Material nach wie vor seine Berechtigung hat. Ich glaube, es ist eher die Frage, wie man Kunststoff einsetzt, es muss mit Verstand und Verantwortung geschehen. Wenn ich den Panton Chair oder einen EVO-C von Jasper Morrison anschaue, dann ist das für mich eine enorm effiziente Art und Weise, gestalterisch schöne Objekte zu vernünftigen Preisen und mit tollen Eigenschaften herzustellen. Was in Zukunft essenziell sein wird, ist die Schaffung des Systems und der Infrastruktur, um alle Artikel aus Kunststoff einem geeigneten Recycling zuführen zu können. Der Umbau von linearer Wirtschaft zu einer Kreislaufwirtschaft ist eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit. Mir macht es unheimlich viel Freude, an diesem Thema zu arbeiten, da eine grosse Dynamik entsteht. Es passiert jeden Tag etwas anderes, viele neue Ideen, Konzepte und Technologien entstehen … das ist wie ein Aufbruch. Daran mitzuwirken ist für mich sehr erfüllend, denn der verantwortungsvolle Umgang mit Kunststoff wird auch weiterhin das Design beeinflussen.

Veröffentlichungsdatum: 25.5.2022
Bilder: Jun Yasumoto, Vitra Unternehmensarchiv, Vitra;


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