«Eine Chance, Städte und Plätze neu zu denken»

Interview mit Dan Hill

1.
Vor 100 Jahren forderte der finnische Architekt Eliel Saarinen: «Dinge sollte man stets im Hinblick darauf entwerfen, wie sie sich in den nächstgrösseren Zusammenhang einfügen – ein Stuhl in einen Raum, ein Raum in ein Haus, ein Haus in eine Umgebung, eine Umgebung in die Stadtplanung.» Dieser Satz erfreute sich wachsender Beliebtheit unter strategischen Designern, einer Strömung, die einige der Prinzipien des Entwerfens auf die systemischen Herausforderungen im Gesamtzusammenhang neu ausrichtet und anwendet. Der aus Grossbritannien stammende Dan Hill ist einer dieser besonderen, ganzheitlichen Denker. Gegenwärtig leitet er die Abteilung Strategisches Design bei Vinnova, der staatlichen schwedischen Agentur für Innovation; vormals übertrug er in leitenden Positionen das strategische Design auf die gebaute Umwelt, auf Forschung und Lehre, auf Regierung und Medien. In diesem Interview beantwortet er Fragen zu den Auswirkungen der aktuellen Krise auf eine Vielzahl von Bereichen unterschiedlicher Grössenordnung – das Zuhause, das Büro und den öffentlichen Raum.

Die aktuelle Krise kann unsere Art zu wohnen und zu arbeiten dauerhaft verändern. Beginnen wir mit dem Privatbereich: Das Arbeiten von zu Hause aus ist nichts Neues. Was sind, abgesehen von einer besseren Ausstattung des Homeoffice, grundlegende Veränderungen, die Sie sich vorstellen könnten?

Seit vielen Jahren arbeiten zahlreiche Menschen regelmässig von zu Hause. Allerdings haben wir noch nie eine Wende dieses Ausmasses vollzogen und einen grossen Teil der Hochqualifizierten zum Arbeiten nach Hause geschickt. Die Moderne hielt die verschiedenen Arbeitsaufgaben strikt auseinander. Die Bemerkung «Mein Büro ist immer dort, wo mein Handy ist» ist leicht dahingesagt, war aber nie unzutreffender. Es ist schwierig, auf diese Weise zu arbeiten. Apps wie Zoom können die häusliche Umgebung mit virtuellen Hintergründen tarnen, ebenso wie Lärm filternde Kopfhörer die Geräusche von Mitbewohnern, Kindern oder Haustieren überdecken können. Doch wenn die mit der Pandemie einhergehenden Restriktionen noch für den grössten Teil des Jahres in Kraft bleiben sollten und das Arbeiten von zu Hause aus immer alltäglicher wird, erleben wir dann eine authentische Reaktion im Design, die nicht verdeckt oder negiert, sondern unterstützt?

Zweifellos steht ein Raum, der nicht für Familien und Freunde gestaltet ist, die zu Hause arbeiten oder sich nahezu jeden Tag rund um die Uhr gemeinsam dort aufhalten, unter erhöhtem Druck. Dieser Druck ist sowohl physischer als auch räumlicher Natur, hat aber auch psychische, emotionale und soziale Dimensionen. Der bei Weitem grösste Teil unserer Wohngebäude ist darauf nicht ausgelegt.

Was könnte es für die Gestaltung unserer Wohnräume bedeuten, wenn wir auch bei nachlassender Bedrohung durch das Virus weiterhin von zu Hause aus arbeiten?

Wir müssen neu überlegen, wie sich dieser Druck auf unterschiedliche Weise über Zeit und Raum verteilen lässt, wie wir neue Räume oder Bedingungen schaffen können – zum Abschalten, zum Nicht-Arbeiten, aber auch zum Nicht-Interagieren, zum Abschweifen ebenso wie zum Einstimmen, zur Neuorganisation von Privatsphäre, konzentrierter Arbeit und Zusammenkünften. Solche Räume könnten komplex, krisensicher und absolut umweltfreundlich sein. Sie würden sich gut an neue Strukturen für das Leben und Arbeiten am gleichen Ort anpassen lassen, soweit in den Wohnhäusern und um sie herum eine flexible Vielfalt an Freiräumen und Annehmlichkeiten zur Verfügung steht. Es gibt historische Beispiele, die als gedanklicher Ausgangspunkt dienen können, zum Beispiel den Sozialbaukomplex Ivry-sur-Seine, errichtet zwischen 1967 und 1975 von Jean Renaudie und Renée Gailhoustet.

Im kleineren Massstab könnten «Heimarbeitsplätze» speziell zur Thematisierung und Auflösung von Spannungen gestaltet werden. Exemplarische Beispiele finden sich im Modell «Geschäft vorn/Werkstatt hinten» der florentinischen Bottega zu Zeiten der Renaissance oder auch in den Live-Work-Ateliers im New York der Achtzigerjahre. Aber was bedeutet dies für jeden Wohnbereich – einschliesslich der Vorstädte – und für das Möbeldesign generell? Auch dafür gibt es historische Vorbilder. Alvar Aaltos einfacher Screen 100 aus wellenförmig gebogenem Sperrholz dient beispielsweise der mühelosen Abgrenzung von Räumen, die vielfältige, dynamische Aktivitäten ermöglichen. Heute ist der Screen 100 ein Luxusartikel, wenn auch überaus nachhaltig und langlebig. Aber wir könnten uns die Frage stellen: Welche erschwinglicheren Varianten könnte es geben?
2.

Was ist, wenn wir nie wieder zu den grossen Menschenmassen der Innenstädte zurückkehren? Was, wenn nach dem Virus einige beschliessen, ganz zu Hause zu bleiben oder ihren Arbeitsplatz im Homeoffice durch ein lokales Gemeinschaftsbüro, eine Bücherei oder ein Café zu ergänzen? Wie könnte sich unter Anwendung des Saarinen-Prinzips unsere nähere Umgebung in der Folge verändern?

Eine massenhafte Verlagerung des Lebens nach Hause und in die unmittelbare Umgebung für fast die Hälfte der Woche erspart nicht nur Tonnen von CO2 und andere Umweltverschmutzungen, verringert die Überlastung des öffentlichen Nahverkehrs, schafft Raum für grössere Biodiversität, verschiebt Aktivitätsmuster überall in der Stadt – sie schwächt auch zu einem grossen Teil den spekulativen gewerblichen Büromarkt und damit das Stadtzentrumsmodell selbst. Die Prämisse «Das Stadtzentrum befindet sich dort, wo gearbeitet wird» gilt so nicht mehr.

Durch die Aufgabe des alles verschlingenden Innenstadtkonzepts entstehen zahlreiche Zentren in eigentlichen Wohnvierteln. Wir bezeichnen solch eine Stadt als polynodal, da sie anstelle eines grossen Verkehrsknotens im Zentrum viele einzelne Knotenpunkte hat. Der englische Architekt Cedric Price beschrieb diese Verschiebung einst als den Wandel vom gekochten Ei – der mittelalterlichen Stadt mit einer Stadtmauer als harter Schale – über das Spiegelei im 17. bis 19. Jahrhundert – das immer noch in der Mitte einen deutlich abgegrenzten «Dotter» besass – hin zur modernen beziehungsweise postmodernen Scrambled City. Gleich einem Rührei ist diese Stadt ein genussvolles, aber formloses Erlebnis, sie wird vom Eiweiss des Strassenverkehrs zusammengehalten und bildet eine Masse von gleichförmiger Konsistenz.
3.
In der jetzigen Zeit können wir diesen Vergleich noch weiterführen: die Stadt als Omelette, ein einfaches Gericht in vielen Variationen, das aus vielen verschiedenen Zutaten bestehen kann. Jede dieser Zutaten verändert das Genusserlebnis, bietet regionale Einflüsse, unterschiedlich verteilte Geschmackskonzentrationen in einem Meer von Ei.
4.
Wenn wir uns jedoch eher an Saarinens Modell der verschiedenen Massstäbe orientieren wollen, wäre es vielleicht zutreffender, das Ganze als eine Art «Tupfenmuster» zu bezeichnen, das sich über das Gewebe der Stadt ausbreitet, mit zahlreichen «Mehrzweckvierteln» voller arbeitender, lernender, spielender und wohnender Menschen. Dadurch wird das Modell des einzelnen grossen Stadtzentrums aufgebrochen: Man arbeitet und verbringt seine Freizeit in der direkten Nachbarschaft, die Innenstadt bleibt leer.

Das klingt nach einem ziemlich umfassenden Wandel. Führt die Tatsache, dass viele Grossstädte von diesen Entwicklungen betroffen sind, zur Herausbildung eines neuen Typs von Metropole?

In der Tat gibt es eine Stadt, die bereits für das zuvor erwähnte Tupfenmuster-Motiv Pate stehen kann: Tokio. Das Stadtzentrum Tokios hat keine erkennbare Bedeutung (der Hauptbahnhof erfüllt diesen Zweck zumindest nicht), stattdessen besteht die Stadt aus Dutzenden, Hunderten von Unterzentren, Ministadtteilen mit höherer Dichte rund um die U-Bahn-Stationen, die wegen der vorsorglichen Brandschutzschneisen um höhere Gebäude schnell wieder in einfache, aber wunderschöne Seitenstrassen mit menschlichem Massstab übergehen. Es gibt keinen einzelnen Geschäftsbezirk, der sich unter den anderen hervorhebt, und welche Stadtteile aktuell en vogue sind, kann sich so schnell ändern wie das Wetter. Trotzdem scheint jedes Gebiet auf die eine oder andere Weise seine Vorzüge, seinen Charakter und seine Funktion zu bewahren. Von entscheidender Bedeutung ist auch, dass das Parken auf der Strasse nicht erlaubt ist; dadurch öffnet sich die Strassenlandschaft für die Menschen, zu Fuss oder auf dem Fahrrad, für Gespräche und Aktivitäten und, ja, auch zur Beförderung von Waren und Personen, aber erst als zweite Möglichkeit, die Strassen mit Leben zu erfüllen. Gebäude wie Sou Fujimoto’s House NA oder Ryue Nishizawa’s Moriyama House fügen sich bescheiden in diese Gegenden ein und verwischen die Grenzen zwischen dem Häuslichen und dem Urbanen, dem Leben zu Hause und dem Arbeitsleben – alles wird zum bereits erwähnten Tupfenmuster. Das soll nicht heissen, dass wir alle zu Tokio werden sollen. Wie alle Städte ist auch Tokio einzigartig, seine Qualität liesse sich nicht einfach kopieren.
5.
Eine globale Pandemie ist zwar eine schreckliche Angelegenheit, da lässt sich nichts beschönigen, aber sie bietet auch die Chance, Städte und Plätze neu zu denken, vom kleinsten Massstab bis hin zu Stadtvierteln und darüber hinaus. Mich interessiert, wie genau – und mit wem – wir dies bewerkstelligen können und welche neuen Lebensmuster am Ende daraus entstehen.

Veröffentlichungsdatum: 26.6.2020
Bilder: © 1. Ivry-sur-Seine Social Housing Complex, Léopold Lambert; 2. Ursula Sprecher; 3. Cedric Price; 4. Dan Hill; 5. Ryue Nishizawas Moriyama House, Edmund Sumner-VIEW / Alamy Stock Photo

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