«Ein Raum ist die Körpersprache des Unternehmens»

Interview mit Raphael Gielgen

Selbst von seinen Arbeitskollegen halten ihn einige für verrückt. Seine unbändige Neugier, die rastlose Suche nach Erklärung und die Lust, alles auf den Kopf zu stellen, machen ihn zuweilen unbequem – und wenn er nach einer langen Reise wieder einmal im Büro erscheint, erzählt er von Dingen, die mehr nach virtueller Utopie, als nach gelebter Wirklichkeit klingen. Er besucht mehr als 100 Unternehmen im Jahr, die Welt ist sein Arbeitsplatz, die Zukunft sein Forschungsgebiet. David Streiff Corti hat mit Raphael Gielgen – «Head of Research & Trendscouting» bei Vitra – gesprochen.

Bevor wir über den besten Ort für die Arbeit sprechen, müssen wir erst einmal definieren, von welcher Art Arbeit wir hier sprechen. Wo beginnt Arbeit für dich, und wo hört sie auf?

Wenn wir Arbeit zeitlich fassen, dann gibt es bei mir keinen Anfang und kein Ende, sondern nur irgendwelche Unterbrechungen. Es gibt Nicht-Arbeitsphasen wie den Schlaf oder den Sport. Die elementarere Frage betrifft jedoch das Selbstverständnis in Bezug auf die Arbeit. Ich würde gerne einen Beitrag zum Fortschritt in unserer eigenen Organisation leisten und auch zum Fortschritt bei unseren Kunden. Das ist natürlich ein sehr privilegiertes Verständnis von Arbeit, das einen hohen Grad an Freiheit beinhaltet.

Du bist mehr als 200 Tage im Jahr unterwegs, tauchst sporadisch im Büro auf und wohnst fast 500 Kilometer davon entfernt auf einem Bauernhof. Wo arbeitest du am besten?

Wenn ich Inspiration brauche und neue Zusammenhänge verstehen möchte, dann kann das überall sein. Je fremder der Kulturkreis und je mehr Menschen mich umgeben, desto besser. Das kann beispielsweise im Transitbereich eines Flughafens sein. Unterwegs sauge ich Dinge auf wie ein Toast das Olivenöl, bis ich ganz erschöpft bin von den vielen Eindrücken. Muss ich mich jedoch konzentrieren und sehr fokussiert arbeiten, mache ich dies zu Hause. Dort habe ich ein grosses Büro mit vielen Büchern und Fenstern hinaus auf den Wald.

Und zu welchem Zweck nutzt du deinen «offiziellen» Arbeitsplatz?

Im «Studio Office» in Basel setzte ich mich meist da vorne an den Tisch, wo ich viele Leute sehe, die rein- und rausgehen, um ein Update zu kriegen. Das ist mein individueller Platz für die Zugehörigkeit, weil er mir eine unmittelbare Teilhabe an unserer Organisation ermöglicht.

Der beste Arbeitsplatz ist demnach eher eine Frage temporärer Bedürfnisse und der Einstellung als ein konkreter, physischer Ort.

Die richtige Einstellung ist wichtig, doch der physische Ort hat in dieser digitalen Zeit eine geradezu zentrale Bedeutung. Obwohl viele von uns die Möglichkeit haben, zu arbeiten, wann und wo sie wollen, investieren Unternehmen nach wie vor sehr viel ins «Verwaltungsgebäude» beziehungsweise den «Campus». Architektur vermag Orientierung zu geben und sehr viel in uns auszulösen, wenn sie gut gemacht ist. Das gleiche gilt für eine intelligente, flexible und ansprechende Raumgestaltung. Darin liegen die Idee und die Stärke der Produkte von Vitra. Es geht darum, die Mitarbeiter zu verorten, ihnen eine Art Heimat zu geben und gleichzeitig einen Stimulus zu erzeugen, sie zu inspirieren.

Wie muss man sich einen solchen Stimulus vorstellen?

Wir haben eine sehr starke Wahrnehmung von Orten oder physischen Objekten und verknüpfen viele Erinnerungen damit. Wer sich dessen bewusst ist, gestaltet seine Räume entsprechend. Ich besuche beispielsweise gerne das MIT, weil sie einem dort durch grosse Scheiben selbst von den Korridoren aus einen Blick in die Labore freigeben und somit eine Art von Zugang ermöglichen. Du siehst Menschen und Dinge, mit denen sie arbeiten. Wenn man ein Grundmass an Neugierde mitbringt, löst das im Kopf sofort etwas aus. Deine Synapsen beginnen, Dinge zu verknüpfen. Aber es gibt auch Möbel und Objekte, die etwas auslösen, weil sie eine starke Aura haben, die meist durch ihre formale und konstruktive Qualität, nicht zuletzt aber auch durch ihre Geschichte erzeugt wird. Man denke dabei an Entwürfe von Ray and Charles Eames, George Nelson, oder Konstantin Grcic, die repräsentativ für eine Zeit stehen, aber immer auch eine Idee der Zukunft in sich tragen.

Die Digitalisierung macht das Büro also nicht komplett obsolet?

Die Technik ermöglicht uns heute ein höchstmögliches Mass an Freiheit in der Arbeit, wie es dies zuvor noch nie gegeben hat. Doch wir lieben nicht nur die Autonomie, sondern brauchen auch die Zugehörigkeit. Du willst Teil einer grösseren Gemeinschaft sein. Wir möchten also selbstbestimmt arbeiten, orientieren uns aber auch stark an der Community. In diesem Spannungsfeld findet Arbeit statt.
«Da wo Arbeit sichtbar wird, und eine echte Teilhabe stattfinden kann, wird am besten gearbeitet!»

Wie entspricht man diesen scheinbar gegenläufigen Bedürfnissen räumlich?

Mit einer Architektur, bei der das Unternehmen ein gutes Gespür für die Gemeinschaft seiner Mitarbeiter, aber auch deren individuelle Bedürfnisse beweist und sich dahingehend viele Fragen stellt. Wie sehen die Räume für Freiheit und Zugehörigkeit aus? Wie gross sollen diese sein? Was soll darin stattfinden können? Hier gilt es den richtigen, den menschlichen Massstab der Architektur zu finden, keinen technischen. Also nicht, was ist technisch möglich, sondern wie fühlt sich Raum an. Die grössten Überraschungen habe ich immer dort erlebt, wo interdisziplinäre Gruppen sehr agil und frei arbeiten konnten, wo immer etwas stattfand und vor allem da, wo Arbeit fürs Kollektiv sichtbar wurde. Arbeit ist unsichtbar, wenn die Leute einfach in den PC schauen. Da wo sie sichtbar wird, und eine echte Teilhabe stattfinden kann, wird am besten gearbeitet!

Hast du ein konkretes Beispiel dafür?

In der New Yorker Werbeagentur R/GA hängen 32 grosse Screens an der Decke, auf denen die Mitarbeiter ihre Arbeit per Knopfdruck unmittelbar teilen können. Durch die Sichtbarmachung von eigenen und anderen Inhalten wird man inspiriert und Teil von etwas Grösserem. Da hast du automatisch Körperspannung. Sensationell!

Darüber hinaus schafft eine solche Transparenz auch Anleitung und Orientierung, weil sich die Mitarbeiter bewusst werden, wohin das Unternehmen steuert und welche Ziele man gemeinsam verfolgt.

Der Campus scheint gegenwärtig besonders prädestiniert für eine derartige Organisation und Repräsentation von Arbeit. Weshalb ist dies so?

Bereits die Kirchen waren als ein Haus der Gemeinschaft, als grosser Versammlungsort, gedacht, und im antiken Griechenland hatte man die Agora. Die Idee, irgendwo zusammenzukommen, um Wissen zu generieren und zu teilen, ist tief in uns drin. Diese Gemeinplätze sind diejenigen, die ein Gebäude heute ausmachen. Der Campus der Gegenwart hat jedoch noch ganz andere Aufgaben. Er ersetzt das ehemalige Headquarter als Ort der Entscheidungsfindung und den sogenannten «Brand Place», die Kultstätte eines Unternehmens, in seiner Funktion, die Menschen in der Authentizität des Unternehmens zu verorten. Damit sie spüren, das ist Vitra. Oder, das ist Roche. Der Raum ist die Körpersprache des Unternehmens.

Ein solches Mass an Austausch, Offenheit und Selbstbestimmung verlangt aber auch von den Mitarbeitern eine neue Denkweise. Schürt das keine Ängste?

Total. Das ist die grösste Herausforderung, zumindest für alteingesessene Firmen. Ein Unternehmensgebäude diente in der Vergangenheit der Weisung und Kontrolle. Auf einmal ist man mit einem komplett anderen Bild von Arbeit konfrontiert. Die Menschen fragen sich: Was soll das? Wo ist meine Rolle? Wer gibt mir Anleitung und Orientierung? Das ist ein Prozess, eine Evolution. Da müssen Leute eingeführt werden, was Aufgabe des Managements ist. Du kannst eine Firma, die über Jahre hierarchisch organisiert war, nicht einfach von heute auf morgen in ein neues Gebäude stecken und sagen: Herzlich Willkommen in der Freiheit.

Du meinst damit, dass viele nur den Look, aber nicht die Firmenkultur verändern?

Das ist sehr entscheidend. Mit der Architektur allein ist es nicht getan. Es genügt nicht, zu sagen, wir machen das jetzt auch. Vielmehr geht es um eine unternehmerische Fürsorge, egal, ob bei einem Familienunternehmen, wie wir das sind, oder bei einem grossen börsennotierten Konzern. Im Kontext der Digitalisierung muss die Antwort auf Freiheit und Zugehörigkeit auch durch unternehmerische Fürsorge erfolgen. Die Unternehmer, Manager und Architekten, die mit mir auf eine «Learning Journey» ins Silicon Valley gehen, bei der wir Einblick in mehr als 20 führende Unternehmen erhalten, müssen diese Themen für sich selbst durchkauen und bei allem, was sie sehen, zu erfassen versuchen, was das für ihre eigenen Organisationen bedeutet. Die Architektur der Arbeit hat sich in der modernen Welt zu einer Schlüsselressource entwickelt. Dies haben viele Firmen erkannt und investieren in diese realen Orte und damit in den Fortschritt der eigenen Organisation.
Der Journalist und redaktionelle Leiter des Magazins Z, das der Neuen Zürcher Zeitung und der NZZ am Sonntag beiliegt, David Streiff Corti setzt sich sitzend, liegend, lesend und schreibend mit Design auseinander.

Veröffentlichungsdatum: 11.7.2019, erstmals veröffentlicht in «Where To Work Better», zur Orgatec 2018
Autor: David Streiff Corti
Bilder: Christoph Duepper, Ariel Huber, Marek Iwicki, Eduardo Perez, Tom Ziora

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