Wie leben

Joseph Grima

1.
Dieser Brief kommt aus Assisi. In dieser kleinen mittelitalienischen Stadt in den Hügeln Umbriens bin ich aufgewachsen; meine Familie lebt nach wie vor hier. Wie bei so vielen beschränkt sich mein Kontakt mit der Aussenwelt zurzeit auf die wöchentliche Einkaufstour. Und wie so viele will ich meinen Augen nicht trauen, wenn ich meine Heimatstadt jetzt sehe, wie man sie sonst nie sieht, auch nicht in der kältesten Winternacht: ohne jedes Leben.

Assisi ist der Geburtsort des Heiligen Franz, der als der erste Umweltschützer überhaupt gilt, jedenfalls in unserer modernen westlichen Kultur. Eigentlich müsste hier jetzt geschäftiges Treiben herrschen, denn die Urlaubssaison steht bevor. Normalerweise überrollt in den Osterferien eine Lawine aus Reisebussen, Wohnmobilen und voll beladenen Kombis unsere kleine Stadt. Doch nun bleiben die Trattorien leer, keiner isst die lokalen Spezialitäten, die Stadt ist still, keiner bewundert die Meisterwerke der Kunst und Architektur des Mittelalters, die sonst so viele Reisende nach Assisi führen.

Zu dieser Zeit, an diesem Ort wird man unweigerlich von dem Gefühl befallen, in einem nicht enden wollenden Schwebezustand gefangen zu sein. Da bietet es sich an, die Lebensbedingungen, die wir als normal empfinden, einmal von aussen zu betrachten. Ein Wort, das dieser Tage immer wieder fällt, ist «beispiellos». Aber ist das, was wir gerade erleben, wirklich beispiellos? Vielmehr liesse sich doch behaupten, dass Krisenzustände eine der wenigen Konstanten der Menschheitsgeschichte sind, und die Fähigkeit, sie zu überwinden, ein wesentliches Merkmal unserer Spezies. Der allmähliche Wandel liegt uns mehr als plötzliche Umwälzungen; Evolution statt Revolution. Es liegt im Wesen des Menschen, jede Krise als Chance zu begreifen, auf der Grundlage des Vergangenen aufzubauen. Die Basiliken und Kirchen mit den majestätischen Fresken von Cimabue, Giotto und Lorenzetti, die so viele Menschen nach Assisi führen, entstanden im Zuge eines solchen Zusammenspiels von Ende und Anfang. Die Stadt Assisi ist ein Beispiel für die Entstehung eines neues Gesellschaftsmodells, einer neuen Kultur, einer neuen Art des Wirtschaftens und einer neuen Zivilisation nach dem Niedergang eines scheinbar unbesiegbaren Weltreiches. Doch wenn ein so mächtiges Gebilde wie das Römische Reich unter dem Gewicht seiner eigenen Masse und Vielschichtigkeit zusammenbrechen kann und an seiner Stelle die dezentralen Agrargesellschaften des Mittelalters entstehen, wie kommen wir dann auf die Idee, dass unsere heutige Wirklichkeit gegen Krisen und Katastrophen gefeit sei?
2.
Der Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Michel Bauwens hat darauf hingewiesen, dass die Geschichte der italienischen Halbinsel nach dem Untergang des Römischen Reiches die Geschichte eines allmählichen Übergangs von Skalenerträgen zu Diversifikations- und Verbundvorteilen ist, der seine Dynamik aus der mangelnden Nachhaltigkeit des vorherigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bezog. Mit dem Niedergang der Städte verblasste auch das auf städtischen Bibliotheken, reichen Mäzenen und Eliteschulen beruhende Wissenssystem. Stattdessen entstand ein neues System verstreuter Wissenszentren und dezentraler Wirtschaftsräume, wie es für die Römer undenkbar gewesen wäre.

«Die letzten Reste des Reiches lösten sich nach der ersten Gesellschaftsrevolution in Europa um 975 auf, Europa schien dem Verfall anheimgegeben. Gleichzeitig schuf das neue System jedoch die Voraussetzungen für eine erste industrielle Revolution im Mittelalter. Auf der Grundlage einer einheitlichen Wissenskultur gelangte Europa im Laufe des 10. bis 13. Jahrhunderts zu neuer Blüte. Die Wiedereinführung einer umlaufgesicherten Währung verhinderte die Anhäufung von Geldvermögen durch die Eliten, die Bevölkerungszahl wuchs auf das Doppelte an und die prächtigen Städte füllten sich wieder. Zünfte und Gilden erlangten einen erheblichen Einfluss; im 11. Jahrhundert entstand in Bologna die erste Peer-to-Peer-Universität. Diese frühe Renaissance beruhte vor allem auf einer Ökonomie der Diversifikationsvorteile und einer einheitlichen Wissensgrundlage der europäischen Intellektuellen und Handwerker. Die Zünfte mochten ihre Zunftgeheimnisse hüten, sie trugen sie aber auch überall dort hin, wo man Kathedralen baute.»

Michael Bauwens, Blueprint for P2P Society, 2012
Und was, so mag man sich jetzt fragen, bedeutet das für uns als Designer? Ein guter Ausgangspunkt wären hier die Schriften unseres lieben Buckminster Fuller, der bekanntlich behauptete, ein Grossteil seiner Entdeckungen beruhe auf Irrtümern. In seinen Worten: «Man entdeckt, was etwas ist, indem man hinauswirft, was nichts ist.» Die Geschichte hat uns – zumindest vorübergehend – Bedingungen auferlegt, die im Zusammenhang des 21. Jahrhunderts eigentlich unvorstellbar sind: ein Himmel ohne Flugzeuge, Städte ohne Autos, ein Moratorium auf das hektische Hin und Her auf unserem Planeten. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber ich könnte auf vieles davon gerne verzichten, weniger wäre mir lieber. Diese Wochen haben gezeigt, dass Produktivität viele unterschiedliche und überraschende Formen annehmen kann. Die Ausgangssperren sind unangenehm, für manche viel unangenehmer als für andere, aber sie bieten auch die seltene Gelegenheit zu erkennen, welchen Preis wir für gewisse scheinbar unabdingbare Privilegien zu zahlen bereit sind, oft ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein. Wollen wir unsere Strassen für immer und ewig den Autos überlassen – oder können wir uns eine ruhigere Stadt vorstellen, in der es langsamer zugeht, die Atemluft reiner ist und die Nachbarn auf der Strasse vor dem Haus ein wenig auf und ab gehen, wie sie es heute tun, um etwas Bewegung zu bekommen? Der Designstratege und Städteplaner Dan Hill beschreibt unsere Städte als etwas, das «die Autos entwarfen, als wir gerade nicht hinschauten.» (Dan Hill, On the smart city, 2013). Jetzt schauen wir aber hin.
3.
Worum es hier eigentlich geht: So viel wir auch durch die Ausgangssperre lernen mögen, so lebhaft wir uns auch eine andere Wirklichkeit vorstellen, kann der Einzelne doch selten mehr tun, als die Akteure in Politik und Gesellschaft zu dem entschlossenen Handeln aufzufordern, das sie angesichts dieser Krise jetzt an den Tag legen. Nehmen wir unsere Abhängigkeit vom Automobil als Beispiel: Solange unsere Städte vornehmlich auf den Autoverkehr ausgelegt sind, kann man von den Menschen kaum verlangen, auf das Auto und die damit einhergehende Mobilität zu verzichten. Die Förderung öffentlicher Verkehrsmittel kann ein Problem nicht lösen, das im eigentlichen Kern unseres Wirtschaftssystems begründet liegt. Bei der Entwicklung einer neuen Wirklichkeit könnten wir Designer eine Schlüsselrolle spielen, aber nur, wenn wir unsere Denkansprüche ganz erheblich hochschrauben. Was wir brauchen – und dieser Tage erleben – sind Eingriffe in die Kodierung der Stadt, wie sie Dan Hill fordert: Wir brauchen einen System- und Strukturwandel, der unser Wirtschaftssystem aus seiner Abhängigkeit von den verschiedenen Formen der Mobilität befreit. Stattdessen sollten wir auf eine lokale Autarkie setzen, in der keine weiten Strecken zurückgelegt werden müssen, weil Zusammenarbeit anders organisiert wird. Im Interesse der Allgemeinheit.

Und hier sehe ich in der aktuellen Situation einen Hoffnungsschimmer. Ungefähr ein Viertel der Menschheit ist zurzeit von Ausgangssperren betroffen. Zum Wohle der Allgemeinheit opfern wir ein Grundrecht. Gewiss ist das für die Armen, Schwachen und auf Hilfe Angewiesenen ein viel grösseres Opfer als für die Glücklichen, die die Pandemie einigermassen sicher und bequem aussitzen können. Dennoch manifestiert sich hier eine beispiellose Solidarität. Eine der Lehren dieser Krise lautet, dass die Spezies Mensch noch immer fähig ist, kollektiv zu handeln, um eine akute Gefahr abzuwehren. Diese Pandemie verursacht unendliches Leid und fordert entsetzlich viele Todesopfer. Und doch verblassen die Bilder und Zahlen im Vergleich zu den voraussichtlichen Auswirkungen einer anderen Krise, die uns schon längst erfasst hat und unser Überleben grundsätzlich bedroht, obwohl sie nur langsam voranschreitet. Ich spreche von der Klimakrise. Die Lebensbedingungen, die wir heute als notwendig erachten, sind dem Leben schon lange nicht mehr zuträglich. Jetzt ist die Zeit, einmal darüber nachzudenken, was wir eigentlich dagegen tun wollen.
4.
Unser jetziges Gesellschaftsmodell steht in einem ebenso prekären Gleichgewicht wie das Römische Reich um 545 n. Chr. Im Grunde unseres Herzens wissen wir das, und wir wissen auch, dass sich etwas ändern muss. Ob wir wollen oder nicht, wir werden uns der Aufgabe stellen müssen, eine neue Welt zu schaffen. Das erfordert Einsatz und Opferbereitschaft. Bisher konnten wir die Kosten unseres Lebensstils externalisieren, auf die Schwachen und Armen abwälzen, uns blind und taub stellen. Das ist unmoralisch, und bald wird es auch unmöglich sein. Doch wenn wir viel von uns verlangen, können wir viel erreichen. Es wäre nicht das erste Mal.

Veröffentlichungsdatum:10.04.2020
Autor: Joseph Grima
Bilder: © 1. Stich mit einer Panorama-Ansicht von Assisi, betitelt Assisi città dello stato pontificio („Assisi, eine Stadt des Kirchenstaates“). Reproduziert in dem Buch Duecento. Hohes Mittelalter in Italien von Hélène Nolthenius, deutsche Ausgabe Würzburg 1957; 2. Giotto di Bondone, Legende von der Hl. Franziskus - Verzicht auf weltliche Güter, zwischen 1297 und 1299; 3. Vladislav Grubman, 42nd Street an einem Samstagabend während COVID-19 (CC BY-SA 4.0); 4. Paul Bril, Landscape with a hunting party and Roman ruins, zwischen 1617-1620;

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