Das Ende des Schreibtischs

Ein Essay von Oli Stratford

Im Jahr 1660 hielt der englische Marineadministrator und Parlamentarier Samuel Pepys seinen Büroalltag im Tagebuch fest – sogar heute noch erschreckend relevante Beobachtungen:

 2. Januar: Ich ging in mein Büro, wo es nichts zu tun gab.
 13. Januar: Dann ging ich in mein Büro, wo nichts zu tun war.
 14. Januar: Nichts zu tun in unserem Büro.
 1. Februar: Heute morgen lag ich lange im Bett, dann ging ich ins Büro, wo ich den ganzen Morgen in meinem spanischen Buch über Rom las.


So wie Pepys schreibe ich dieses Essay in meinem Büro. Und nach nur 10 Minuten knabbert schon die Langeweile an mir – sie scheint in Büroumgebungen irgendwie heimisch zu sein. «Warum können Büros so langweilig sein?» schrieb der Journalist Gideon Haigh in «Das Büro: Eine arbeitsame Geschichte» (The Office: A Hardworking History), eine 2012 veröffentlichte Studie zu Büroumgebungen.

«Es gehört einfach dazu. Eine gewisse Monotonie gehört zu ihrem Grundzustand, zu dem begrenzten Raum, den konstanten Temperatur- und Lichtverhältnissen. Es gibt auch Benimmregeln – Einschränkungen, wie körperlich man sein kann, Sanktionen für absolute Offenheit – die jegliche Interaktion neutral und keimfrei machen.»

In anderen Worten: Büros sind langweilig, weil sie Orte sind, die gestaltet wurden, um Arbeit zu ermöglichen und Arbeit ist oft ermüdend. «Natürlich könnte ein aufregendes Büro seinen Zweck verfehlen,» vermerkt Haigh.
«Soft Work ist das Ende des Schreibtischs.»
Jay Osgerby
Vor diesem Hintergrund widersprechen viele Ansätze zeitgenössischen Bürodesigns den ernüchternden Aussagen Haighs. Am einen Ende des Spektrums stehen die Büros von Tech-Unternehmen, deren Kindergarten-trifft-Hindernisparcours-Ästhetik das Büro als einen Ort des Spasses anstatt der Arbeit positionieren.

«An solchen Orten findet man nichts, was sich erwachsen oder kultiviert anfühlt,» sagt Edward Barber, einer der beiden Gründer des Industriedesignstudios Barber & Osgerby, die ich auf dem Campus des Möbelherstellers Vitra in Weil am Rhein traf. Barbers Geschäftspartner, Jay Osgerby, sitzt in der Nähe und blättert in einem der Bürogestaltung gewidmeten Hochglanzmagazin.

«Hier, noch so ein Klassiker,» ruft er aus und hält eine Doppelseite des Magazins hoch. Sie zeigt eine Fotografie eines offenbar als Kuschelspielplatz getarnten Büros. Die gezeigten Mitarbeiter laufen entschlossen durch das Bild und sehen aus, als ob sie gerade bewusstseinserweiternde Synergien erleben. «Das ist der Status Quo des Office Designs,» sagt Osgerby.
Während der Messe Orgatec in Köln im Oktober 2018 präsentierte Vitra Barber & Osgerbys Bürosystem Soft Work, konzipiert als Gegenentwurf zu den Missständen in heutigen Büros. «Die Grundidee war, ein System zu gestalten, das ohne Schreibtisch auskommt, denn heute arbeiten ja alle auf Tablets, Telefonen und Laptops. Also braucht man keinen Tisch oder Bürostuhl mehr,» sagt Barber. «Wir hatten den Eindruck, dass viele Leute heute gern in Sofaecken oder Aufenthaltsbereichen arbeiten, also warum nicht ernsthaft ein Büro gestalten, welches auf einem Sofa basiert?»

«Soft Work,» fügt Osgerby hinzu «ist das Ende des Schreibtischs».

Schon 1952 trieb Herman Millers damaliger Designdirektor George Nelson die Vision eines neuartigen Büros voran. Während diese zwar nicht schreibtischlos daherkam, ist sie dennoch als Gestus für etwas mehr Ungezwungenheit zu verstehen. «Ein Büro», so argumentierte Nelson, «sollte danach streben, eine Art Wohnzimmer zu werden, in dem Arbeit unter weniger Spannung und möglichst ablenkungsfrei erledigt werden kann.» Das ist ein überraschend zeitgemässer Vorschlag, der darauf hinweist, dass eine – sowohl räumlich als funktional – zu spezifische gestaltete Arbeitsumgebung schädlich für ihre Abläufe sein kann.
Solch eine Vision, stellt Haigh fest, beschreibt möglichweise den historischen Aufgabenbereich des Büros. «Eine Wahrheit der Geschichte des Büros ist, dass es eine Aktivität war, bevor es zu einem Ort wurde. Das Büro entwickelte sich nicht wie ein Webstuhl oder ein Fabriksystem. Zuerst war das Büro einfach nur ein Bereich – in einem Lagerhaus, einem Laden oder einem Haus – der freigehalten wurde damit man dort Korrespondenzen erledigen oder die Buchhaltung machen konnte. Diesen Bereich wirklich auf die Bedürfnisse der dort stattfindenden Arbeit zuzuschneiden, ist eine neuere Entwicklung.»

Soft Work ist ein Versuch, diesem Ort eine eigenständige Form zu geben, die sich besser für ergebnisoffene Arbeitsgewohnheiten eignet. Das Sofasystem basiert auf einem Satz modularer, vom Boden abgehobener Schienen, die – entweder in gerader oder gebogener Form – zu einer Art «Fahrgestell» für Sitzflächen und Lehnen, Plattformen, Tische, Trennpaneele und Tischvorrichtungen werden. Elektrische Leitungen verschwinden in Polsterritzen und verlaufen hinter den Sitzflächen.
Es ist ein raffinierter und eleganter Aufbau, der es versteht, zwar informell und relaxed daherzukommen, aber gleichzeitig das Infantile typischer Büros von Tech-Unternehmen und ihrer Verwandten geschickt vermeidet.

Eine wichtige Entscheidung war, die Sitzgeometrie von Soft Work höher als die des typischen Sofas anzusetzen. Das verbessert die Ergonomie und ermöglicht eine natürlichere Sitzhaltung bei der Arbeit am Laptop.

«Wenn man sich Aufenthaltsbereiche im Büro ansieht, dann funktioniert das mit den Sofas oft nicht so gut,» sagt Barber. «Sie sind typischerweise zu niedrig, denn sie sind dafür gestaltet, dass man sich zurücklehnt, aber dann versuchst man ja, halb liegend zu tippen. Also haben wir ein Sofa gestaltet, das die richtige Höhe hat, um an einem Tisch zu arbeiten. Das ist ein etwas radikaler Vorschlag und es könnte 10 Jahre dauern, bis sowas wirklich Fuss fasst, aber ich denke, viele Leute werden die Idee direkt verstehen. Jedes Büro – egal welcher Industrie – braucht sowas.»
Soft Work von Vitra und Barber & Osgerby kann folglich als eine Art Gnadenschuss verstanden werden, als Todesstoss für das herkömmliche Büro – 66 Jahre nachdem Nelson ihm schon in den 1950er-Jahren eine Tracht Prügel verpasst hatte.

«Bei Soft Work geht es darum, mit der Idee des herkömmlichen Bürogebäudes aufzuräumen,» sagt Osgerby. «Wir fragen uns, ob man wirklich noch ein Bürogebäude braucht, denn auf eine Art sind ja jetzt alle Gebäude Bürogebäude, vielleicht ist sogar das Wort Büro nicht mehr relevant. Du kannst von dem Moment, an dem Du aufstehst, bis zu dem Moment, an dem Du ins Bett gehst, arbeiten – und Du musst dabei noch nicht einmal zur Arbeit.»

An dieser Stelle scheint es, als ob Haigh vielleicht noch nicht weit genug gedacht hätte, das Büro eher als Aktivität definieren müsste und nicht so sehr als Ort. Heute, wo sich die Arbeitsgewohnheiten rasant ändern, mutiert das Büro nämlich zur einzigen Aktivität. Noch einmal Nelson: «Es handelt sich hier nicht nur um Tische und Aktenschränke. Es handelt sich um einen Lebensentwurf.» Soft Work und die damit einhergehende Modifikation einer gesamten Typologie sind das Bestreben, diesen Lebensentwurf schmackhaft zu machen.
Dieser Artikel ist eine überarbeitete und gekürzte Version eines Essays, der ursprünglich im «Disegno»-Magazin, dem Quarterly Journal of Design, erschienen ist.

Veröffentlichungsdatum: 19.9.2019
Autor: Oli Stratford
Bilder: Lorenz Cugini, Edward Barber & Jay Osgerby

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