Notizen eines Heimarbeiters

Jonathan Olivares

Der Designer Jonathan Olivares arbeitet seit zwei Jahren zu Hause. Hier berichtet er, wie er seine Arbeitsumgebung gestaltet, wer seine Vorbilder sind und welche Gewohnheiten ein Heimarbeiter braucht.

Nachdem ich mein eigentliches Designbüro geschlossen hatte, arbeitete ich ein Jahr lang praktisch von überall. Allmählich merkte ich jedoch, dass ich mich dabei nirgends so wohl fühlte wie zu Hause. Aber ich hatte das vorher noch nie probiert und konnte mir nicht recht vorstellen, wie das gehen soll: Wohne ich dann in einem Büro, oder arbeite ich zu Hause? Ich fragte mich auch, ob ich nicht durchdrehen würde, jeden Tag am gleichen Ort. Und ich hatte keine Ahnung, welche Abläufe und Regeln ich bräuchte, um produktiv zu bleiben. Ausserdem war meine Wohnung nicht als Arbeitsraum konzipiert.

Auf die Idee, zu Hause zu arbeiten, kam ich durch ein umfassendes Interview mit dem inzwischen leider verstorbenen Richard Sapper. Seine überaus erfolgreichen Produkte für Alessi, Artemide und IBM entwickelte er allesamt gemütlich zu Hause. Wir sprachen bestimmt mehr als 50 Stunden über seine Laufbahn, und die verbrachten wir ausschliesslich bei ihm zu Hause, ob in Mailand, am Comer See oder in Los Angeles. Im Laufe unserer Treffen wurde mir immer deutlicher, wie eng seine Arbeit mit seiner Umgebung und dem alltäglichen Leben – dem Kaffee am Morgen, der Pasta mit Parmesan zu Mittag, dem Schluck Schnaps am Abend – verwoben war, in dem er und seine Frau Dorit sich gemeinsam mit ihren drei Kindern eingerichtet hatten. Richard arbeitete zwar oft auf dem Sofa und breitete seine Skizzen auf dem Beistelltisch aus, doch er hatte auch ein richtiges Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch, der allerdings vollkommen unter Korrespondenz, Arbeitsgerät und Modellen vergraben war. Die Wände waren mit angehefteten Zeichnungen, Kunstwerken, Postern und noch mehr Werkzeug bedeckt, das dort hing. Richard begann ein neues Projekt, wenn ihn die Muse küsste, und das tat sie meistens, wenn er die Vögel vor seinem Fenster beobachtete. Mein früheres Büro war wie ein Labor organisiert und getaktet. Bei Richard bekam ich Einblick in eine Arbeitswelt, in der Platz für kreatives Chaos und Zeit für Denkpausen vorhanden war.
Da ich in Kalifornien lebe, die meisten meiner Kollegen aber östlich des Mississippi oder sogar des Atlantiks, beginnt mein Arbeitstag oft frühmorgens mit einer Videokonferenz. Das bisher früheste Gespräch war für mich um 4 Uhr morgens, als ich einer Jury in London einen Wettbewerbsbeitrag vorstellte. Um diese Besprechungen herum hat sich ein mehr oder weniger fester Ablauf etabliert. Ich stehe vor Sonnenaufgang auf und mache mir erst einmal ein warmes Getränk. Ich ziehe mich nicht fein an, aber Hemd und Hose müssen schon sein. Da sich die Lichtverhältnisse hier in den frühen Morgenstunden dramatisch wandeln, setze ich mich an einen Platz, wo es nicht zu hell ist, um den Bildschirm zu sehen, aber auch nicht zu dunkel, damit meine Gesprächspartner mich gut sehen können. Ich füttere den Hund. Dann geht die Konferenz los und ich trete in den virtuellen Raum ein, der uns allen so vertraut ist – und um den uns frühere Generationen gewiss beneiden würden, die noch Telegramme schicken, den Ozean per Schiff überqueren oder Ferngespräche bezahlen mussten. Bis die Konferenz vorbei ist, ist meine Lebenspartnerin aufgewacht, und wir machen gemeinsam Frühstück.

Wenn sich das Leben zu Hause in der Küche abspielt, dann gilt das auch für das Leben im häuslichen Büro. Texte und Fotos zeigen zum Beispiel, dass sich bei Alexander und Louisa Calder alles um den Küchentisch drehte, egal ob in Roxbury in Connecticut oder in Saché in Frankreich. Alexander blieb zwar tagelang in seinem Atelierraum verschwunden, kehrte aber immer wieder an den Küchentisch zurück, der auf einer Insel von Teppichen stand, die Louisa entworfen hatte. Hier verbrachten die beiden Zeit mit ihren Kindern, bewirteten Gäste, lasen, zeichneten, tranken einen von Alexanders geliebten Rotweinen oder assen das frisch gebackene Brot, das Louisa gerade aus dem Ofen geholt hatte. Mit den Calders als Vorbild stellte ich fest, dass meine Tage immer produktiver, aktiver und befriedigender wurden, je näher ich mit meiner Arbeit an die Küche rückte. Es ist wie bei der Dreifelderwirtschaft: Arbeit, kurze Kaffeepause, mehr Arbeit, Essen machen. Durch den Wechsel bekomme ich den Kopf frei und kann mich besser darauf konzentrieren, was als nächstes ansteht.
Viele Künstler und Designer arbeiten zu Hause, zahlreiche Firmen – Disney, Nike, Apple – hatten ihren ersten Sitz in der Wohnung der Gründer. Mein persönlicher Favorit bei den häuslichen Unternehmen ist der Wu-Tang Clan. Die Demos für Enter the 36 Chambers und Tical von Method Man nahm der Rapper RZA in verschiedenen Wohnungen in Staten Island auf. Dann richtete er sich das Studio im Souterrain ein, wo er Old Dirty Bastard, Raekwon und die ersten GZA-Alben produzierte, aufnahm und mischte. RZA beschreibt das Studio als «Dojo», einen «Ort der Versammlung, der Übung und des spirituellen Wachstums» (RZA, The Tao of Wu (London: Penguin 2009), S. 113).

In seinem philosophischen Werk The Tao of Wu schreibt RZA:
«Sei ein paar Tage alleine. Sondere dich von den Menschen ab, suche die Ruhe. Dann wirst du dich hören und spüren. Du hörst von dem Du, das nicht das Du ist, das du und deine Familie, die Gesellschaft oder die Geschichte geformt haben. Du hörst von einem tiefer liegenden Du, das immer da ist. Das ist das Du mit dem göttlichen Funken.»
(RZA, The Tao of Wu, S. 97.).

Der grösste Vorteil der Heimarbeit ist vielleicht die Freiheit, die Tage so zu gestalten, dass man über weite Strecken überhaupt nicht abgelenkt wird. Allerdings kann es auch sehr fruchtbar sein, wenn man sich ablenken lässt, dem Geist eine Pause gönnt. Die Kunst besteht darin, die richtige Ablenkung zu finden. Für George Nelson war das sein Füllfederhalter der Marke Montblanc Diplomat:
«Wer etwas schreiben soll, das zu einem bestimmten Termin fertig sein muss, sucht immer nach legitimen Gründen für eine Pause, und in dieser Hinsicht ist ein Füllfederhalter ideal, weil man ihn ab und zu aufziehen muss. Selbstverständlich spült man dabei den Kolben und die Feder sorgfältig mit Wasser, und wenn man den Füller aufgezogen hat, muss man ihn vorsichtig mit einem Papiertuch abwischen, weil man beim Schreiben sonst ganz blaue Finger bekommt. Dieser Vorgang dauerte mindestens fünf Minuten; mit etwas Übung kam ich auf zehn.»
(George Nelson, On Design (New York: Whitney Library of Design / London: Architectural Press 1979), S. 121.).

Wahrscheinlich bin ich einfach weniger diszipliniert als Nelson, denn für mich zählen Dinge wie mein Schallplattenspieler, ein Vorrat verschiedener japanischer Räucherstäbchen, ein Holzofen und ein Korb mit Thera-Bändern und Hanteln als Arbeitsgeräte. Gerade habe ich zehn Minuten damit verbracht, das Album Dyin’ to be Dancin’ von Empress zu suchen und den Titelsong zu spielen; Räucherstäbchen lassen sich zwar schnell anzünden, sind aber wichtig für die Einstimmung auf eine neue Aufgabe und wollen daher sorgfältig ausgewählt sein. Feuer machen braucht gute fünf Minuten, und man muss natürlich alle Viertelstunde danach schauen; ein kleiner Workout kann locker eine halbe Stunde dauern.

Nicht alle Arbeitsgeräte im Homeoffice sind gleich wichtig. Vollkommen unverzichtbar ist für mich das Modem. Die unauffällige graue Box (Arris TM1602) im zur Wand gedrehten untersten Fach meines Joe-Colombo-Rollwagens ist die Lebensader meiner häuslichen Arbeit. Zum Glück konnte ich den Internet-Anbieter überreden, mir einen schnellen Zugang mit hoher Datenübertragungsrate für Geschäftskunden zu geben, obwohl wir uns hier in einer Wohngegend befinden. Das ist für mich extrem wichtig, nicht nur weil die Hollywood Hills für ihren schlechten Empfang berüchtigt sind, sondern auch weil sich kaum etwas von meiner Arbeit tatsächlich im Haus befindet – es liegt alles in einem Dropbox-Ordner. In seinem Vorwort zu dem 2014 erschienenen Buch SQM von Space Caviar schreibt Joseph Grima:
«Wenn Daten das neue Öl sind, dann ist die Wohnung das neue Texas. Die Wohnung von heute ist tatsächlich eine Maschine – nicht Jacques Tatis Ansammlung von Technik und Automaten, sondern eine Datenfabrik, wo alles, was die Bewohner tun, quantifiziert und übermittelt wird, mit einem Umfang von bis zu einem Gigabyte pro Woche.»
(Joseph Grima, «Vorwort» in SQM: The Quantified Home, hg. von Space Caviar (Zürich: Lars Müller Publishers 2014), S. 25.). Bei Daten – und auch sonst – folge ich ohnehin eher dem Leitsatz «nicht kleckern, sondern klotzen».
Wie jedes Zuhause und jedes Büro entwickelt sich ein Homeoffice ständig weiter; neue Möbel, Arbeitsgeräte, Räume und Gewohnheiten kommen hinzu. Ich wäre zum Beispiel an einem Beistelltisch interessiert, der hoch genug für meine Liege ist, so dass ich ihn heranschieben und daran arbeiten kann. Georgia O’Keeffe hatte so einen Tisch im Wohnzimmer ihres Hauses in Abiquiu. Sie hatte sich zunächst einen Tisch von Mies van der Rohe gekauft, der aber irgendwie nicht passte, so dass sie ihn zurückgab. Der neue Tisch war eine Sonderanfertigung mit Beinen aus Messing statt Stahl. Ausserdem war er breiter und höher, damit ihre Gäste die Füsse darunter strecken konnten. So entsteht ein Homeoffice: Immer wieder kommt etwas Neues hinzu, mal ein Gegenstand, mal eine Gewohnheit, manchmal passt es, manchmal nicht, aber irgendwann ist alles genau so, wie es sein soll.

Veröffentlichungsdatum: 03.04.2020
Autor: Jonathan Olivares
Bilder: © Sam Frost; Domestic Contours: Ramak Fazel; The Estate of Pedro E. Guerrero; Ralph Looney, Courtesy, The Albuquerque Museum of Art and History, gift of the Estate of Ralph and Clarabelle Looney

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