Social Seating

Sitzen als kollektives Erlebnis

Der hochaufragende Rundbau des deutschen Architekten Stephan Braunfels, der die kreisförmige Eingangshalle der Pinakothek der Moderne in München bildet, ist in den vergangenen Monaten geselliger und interaktiver geworden: Eine Installation lädt Besucherinnen und Besucher dazu ein, sich länger im Eingangsbereich aufzuhalten. Die einjährige Ausstellung mit dem Titel «Social Seating» umfasst Sitzlösungen in allen Grössen und Variationen, die kunstvoll in dem weitläufigen Raum verteilt sind. Hier können Menschen, die eine der vielen Ausstellungen des Museumskomplexes besuchen, im Eingangsbereich auf stabilen Sitzgelegenheiten wie einer typisch bayerischen Bierbank Platz nehmen oder sich zwischen flexiblen Schaumstoffzapfen niederlassen, die riesigen Grashalmen ähneln – ein Entwurf des italienischen Kollektivs Gruppo Strum aus den 1960er-Jahren.
«Dieses Umfeld bringt Menschen im urbanen Raum zusammen und man kann beobachten, wie die Sitzobjekte Fremde dazu inspirieren, miteinander zu kommunizieren», erklärt Xenia Riemann-Tyroller, die Kuratorin des Münchner Designmuseums und eine der drei Kuratorinnen des Projekts. «Andererseits kann es auch ein Ort sein, an den man sich zurückziehen kann, um Ruhe und Erholung zu finden», fügt sie hinzu. Ein häufiger Besucher mache hier sogar öfters ein kleines Schläfchen auf dem Ledersofa von De Sede aus dem Jahre 1972.

«Social Seating» bietet laut Riemann-Tyroller nicht nur eine Gelegenheit zum Ausruhen und Nachdenken. Eine zentrale Intention des Projekts sei es auch, einem diversen Publikum zu zeigen, dass gutes Industriedesign die Fähigkeit habe, Alltagsgegenstände wie einen Stuhl oder ein Sofa in ein Werkzeug zu verwandeln, das soziale Interaktion ermöglichen und fördern kann. Ein Objekt, das diese Vorteile ideal veranschaulicht, ist Landen von Konstantin Grcic, eine Vitra Edition aus dem Jahre 2007 als Leihgabe aus dem Vitra Design Museum. Es besteht aus vier Sitzen, die alle nach innen gerichtet sind und sich in der Mitte eine Fussstütze teilen. Diese Lösung sorgt für spontane soziale Interaktionen zwischen den Menschen, die sich hier niederlassen. Ein anderes Sitzobjekt ist Verner Pantons Cloverleaf Sofa, dessen kurvenreiche, organische Formgebung es zu einer Ikone der Swinging Sixties machte. Die bildhauerische Form und das flexible Layout dieses Stücks der «Social Seating»-Installation fördern nicht nur die Interaktion, sondern machen es auch zu einem funktionalen Kunstwerk innerhalb des Raums.
Es werden auch neuere Stücke ausgestellt, wie die spielerische Sitzbank Roll Collection von Verena Hennig (mit Rollen auf den Sitzflächen, mit denen die Sitzenden aufeinander zu oder voneinander weg gleiten können). Die Ausstellung bietet eine Gelegenheit, zu entdecken, wie vielfältig sich das Sitzmöbeldesign weiterentwickelt hat. Nicht zuletzt betont Riemann-Tyroller, wie die «Landschaften» aus geselligen Sitzgelegenheiten sich im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt haben – insbesondere das Sofa, dessen Design sich sehr viel mehr verändert hat, als man es vielleicht annehmen würde. «Die Idee von ‹modularen› Sofas, die anpassbar und funktional sind, mag einem eventuell neu vorkommen, das Konzept entstand allerdings bereits nach dem Zweiten Weltkrieg», sagt sie. «Ein weiterer grosser Wandel, der sich im Laufe der Zeit im Sofadesign vollzogen hat, ist die Tendenz, tiefer zu sitzen, also gemütlicher, und diese Art der Sitzlandschaften haben sich im Verlauf der Jahre wirklich weiterentwickelt.»

Die sich verändernde soziale Dynamik des Sitzens und ihr Beitrag zur Verständigung von Menschen ist ein Thema, dass in der Welt des Designs immer mehr in den Mittelpunkt rückt. Eine weitere, neuere Erfolgsgeschichte war die «Diurno»-Installation von Panter&Tourron bei der diesjährigen Mailänder Designwoche. Sie galt als «geheimer Raum» und Besucherinnen und Besucher waren dazu eingeladen, sich abseits der hektischen Designveranstaltung in einer grossen, abgesenkten Sitzgrube zu entspannen. Durch die Absenkung der Sitzelemente näher an den Boden heran entstand aus der Installation ein fröhlicher, entspannter und gleichzeitig gemütlicher Bereich, in dem die Menschen buchstäblich näher aneinanderrückten und so engere Verbindungen entstanden. Sitzdesign scheint also auch in der Zukunft auf soziale Interaktion ausgerichtet zu sein.
Das neue Anagram Sofa von Panter&Tourron für Vitra ist ein weiteres Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Thema Social Seating.

Veröffentlichungsdatum: 30.10.2024
Autor: Nolan Giles
Bilder: Installationansicht von Social Seating - Rotundenprojekt Nr. 9, Fotos: Die Neue Sammlung - The Design Museum, Jasmin Minne; 1., 6. Verner Panton, Sofa Cloverleaf, 1969, Verpan, Horsens, DNK © Verner Panton Design AG / Design by Verner Panton / Produced under license by Verpan A/S; 2., 4. Ueli Berger, Eleonore Peduzzi Riva, Heinz Ulrich, Klaus Vogt, Sitzschlange DS-600, 1972, de Sede, Klingnau, CHE, Leihgabe de Sede; 3. Gruppo Strum (Giorgio Ceretti, Pietro Derossi, Riccardo Rosso), Sitzobjekt Pratone Forever Greener, 1966 / 2021, Gufram, Barolo, ITA; 5. Konstantin Grcic, Bank Landen, 2007, Vitra Edition, Birsfelden, CHE, Leihgabe Vitra Design Museum; 7., 8. © Vitra, Foto: Dejan Jovanovic

Das könnte Sie auch interessieren