Wenn Materialmangel zu einem neuen Entwurf führt

Chaise Tout Bois, 1941

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Für Jean Prouvé war die praktische Methode der wichtigste Designansatz. Als ausgebildeter Kunstschmied war er talentiert im Umgang mit Materialien. Er wusste genau, wie er ihre Stärken und Schwächen einsetzen konnte, insbesondere bei Metall, Massivholz und Sperrholz.

Catherine Prouvé, die Tochter von Jean Prouvé, erzählt: «Wenn mein Vater mit der Entwicklung eines neuen Entwurfs startete, zeichnete er eine grobe Skizze und schritt dann energisch zu den Maschinen in seiner Werkstatt, um ein erstes Modell zu bauen. Alle Entwürfe meines Vaters wurden auf den Maschinen der Ateliers Jean Prouvé entwickelt. Am Abend warf mein Vater dann seine Skizze weg, und nachdem er und seine Kollegen in der Werkstatt mit dem Entwurf zufrieden waren, gingen sie an die Ausarbeitung der eigentlichen technischen Zeichnungen für die zukünftige Produktion. Das ist der Grund dafür, dass nur wenige Handskizzen meines Vaters existieren.»
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Bei Chaise Tout Bois war es nicht viel anders. Der Stuhl entstand wegen des Materialmangels während des Zweiten Weltkriegs: Fast überall war zu dieser Zeit eigentlich nur Holz uneingeschränkt verfügbar.

Chaise Tout Bois wurde der einzige Vollholzstuhl von Prouvé. Seine signifikante Form artikuliert – wie die Metallversion, der Standard Stuhl – Prouvés Idee eines Stuhls, der sich am Übergang von Beinen und Sitzfläche orientiert. An einer Verbindung also, die Stuhlkonstrukteure wegen der Gewichtsverteilung der menschlichen Anatomie und den daraus erwachsenden Kräften immer wieder vor Herausforderungen gestellt hat: Die Belastung eines Stuhls ist dort am grössten, wo er das Gewicht des Rumpfes trägt. Um diesen Punkt zu verstärken, hat Prouvé die Ausprägung der hinteren Profile bewusst betont und ihnen eine Form gegeben, die an Flugzeugflügel erinnern – ein Profil, das er danach in verschiedenen seiner Design- und Architekturkonstruktionen wieder aufgegriffen hat.

Während des Krieges wurden mehrere Prototypen von Chaise Tout Bois hergestellt, um die Festigkeit, Verbindungen, Beinposition und die Befestigung von Rückenlehne und Sitz zu prüfen und zu vergleichen.

1945 schlug Jean Prouvé den Stuhl als «Not-Möbel» vor. Er wurde aus Eichenholz hergestellt, einer für ihre Robustheit und Stabilität bekannten Holzart, die vor allem für Kathedralendächer und die Bootsindustrie verwendet wurde.
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Schon bald erhielt Prouvé eine Auszeichnung für den Entwurf im Wettbewerb «Meubles de France» (Möbel Frankreichs) von 1947, der die Bedürfnisse von Flüchtlingen und jungen verheirateten Menschen thematisierte. Die Idee dabei war, serienmässig hergestellte Möbel, die durchdacht gestaltet, gefällig und von guter Qualität waren, zu einem moderaten Preis anbieten zu können, der den Möglichkeiten der Gesellschaft entsprach.

Später wurde Chaise Tout Bois von einer zerlegbaren Version aus Metall- und Holzkomponenten abgelöst und dann durch den Stuhl No. 305 aus Holz und Metall – heute bekannt und von Vitra produziert als Stuhl Standard.
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Nun legt Vitra auch Chaise Tout Bois wieder auf – und es zeigt sich, dass er nicht nur wegen seines Materials, sondern auch durch seinen Erfindergeist der heutigen Zeit entspricht.

Veröffentlichungsdatum: 16.7.2020
Autor: Stine Liv Buur mit Catherine Prouvé
Images: 1. Agence Photographique de la Réunion des musées nationaux / © RMN und ProLitteris: Jean Prouvés Haus in Nancy von 1954. Blick auf das Wohn-Esszimmer mit einer Version von Chaises Tout Bois rund um den Esstisch. Foto von 1955; 2. Ateliers Jean Prouvé, chaise bois. Arch. dép. de Meurthe-et-Moselle, 23 J 187/4. © [ADAGP] mit Erlaubnis von Catherine Prouvé; 3. © Fonds Perret: Hauptsitz des Centre d'études nucléaires du Commissariat à l’énergie atomique; 4. Lorenz Cugini; 5. Marc Eggimann

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