EVO-C – Die Evolution einer Stuhltypologie

Ein Gespräch mit Jasper Morrison

Jasper Morrison erzählt über den Designprozess von EVO-C, seinem neuesten Entwurf für Vitra, und was alles damit zusammenhängt. Das Gespräch wurde von Max Fraser im Auftrag von twentytwentyone London geführt, zum Anlass des digitalen EVO-C Chair Ausstellungsraum.

Sie arbeiten seit 1989 mit Rolf Fehlbaum, dem Chairman Emeritus von Vitra, und seinem Team zusammen und sind für einige der meistverkauften und bekanntesten Designs der neueren Unternehmensgeschichte von Vitra verantwortlich. Sie haben dabei eine Vielzahl von Möbeltypologien für die Marke in Angriff genommen, allerdings bisher noch nie einen Freischwinger-Stuhl – wie nahm das Projekt EVO-C – eigentlich seinen Anfang?

Es fing mit einer Frage der Ingenieure in der Vitra-Produktentwicklung an, ob es möglich wäre, einen aus einem Stück geformten Freischwinger-Stuhl mit zwei Vorderbeinen zu verwirklichen, also anders gesagt, ob wir einen Schritt weiter als bei dem Panton Chair gehen und eine zweibeinige, einteilig aus Kunststoff geformte Variante entwerfen könnten. Rolf Fehlbaum, der vor mehr als 50 Jahren als junger Vitra-Mitarbeiter seinen Vater überzeugen konnte, die Herausforderung Panton Chair anzunehmen, war sofort für Idee, dass Vitra mit den neuesten Technologien und Materialien den nächsten Schritt wagen sollte.

Wie geht man an ein solches Projekt heran? Beginnt man traditionell mit einer Zeichnung oder einem Modell? Oder erfordern das Material und der Fertigungsprozess von Anfang an computergestütztes Design? Wie lange hat die Evolution des Entwurfs gedauert, welche Materialherausforderungen gab es und welche Konstruktionseinschränkungen traten auf, die letztendlich in die endgültige Designlösung miteinflossen?

Nachdem die Frage gestellt worden war, begann es mit einer Skizze – was vor allem zeigt, wie wichtig der Dialog ist, da ich die Skizze ohne die Frage gar nicht erst angefertigt hätte. Das ist jetzt ungefähr fünf Jahre her und inzwischen haben wir mehrere hundert Iterationen einer 3D-Computerzeichnung erstellt. Die Änderungen waren teilweise ästhetischer Natur, es ging aber hauptsächlich darum, die Teile und Materialstärken so anzupassen, dass die richtige Mischung aus Stärke und Flexibilität erreicht wurde.

EVO-C ist eine technisch komplexe Konstruktion aus einem spritzgegossenen Polypropylen, das bei Bedarf Strukturfestigkeit aufweist. Die beiden Vorderbeine bestehen aus einer hohlen Skelettstruktur, die stabil und gleichzeitig leicht ist. Reduktion und Zurückhaltung sind wichtige Bestandteile Ihrer Design-Ideologie. Welche Herausforderungen sind Ihnen beim Versuch begegnet, Schwung und Persönlichkeit mit Kraft und der wichtigen Freischwinger-Federung zu vereinen?

Die grössten Herausforderungen waren die Dicke der Beine, die Länge des Fusses (um Umkippen zu verhindern) und die Details, wie und wo die spritzgegossenen, röhrenförmigen Teile enden sollten. Es gab natürlich noch viele weitere technische Herausforderungen, darunter wochenlange Belastungssimulationen am Computer, um herauszufinden, ob das Design belastungsfähig genug war oder nicht, und falls nicht, welche Bereiche noch verstärkt werden müssten. Dazu gehörten Testgussformen der Beine, um diese einer Realitätsprüfung zu unterziehen, mit länglichen Rohrstücken zum Simulieren des Gasflusses durch eine bestimmte Länge, ohne dabei eine kostenaufwendige, grössere Gussform herstellen zu müssen. Als dann schliesslich alles gut funktionierte, begann man damit die Gussform, die ein Monster aus beweglichen Teilen und Gasflusskanälen ist, zuzuschneiden. Das Ergebnis besteht zu neun Teilen aus Ingenieurskunst und zu einem Teil aus Design.

Wo sehen Sie die Anwendungsgebiete des Stuhls?

Meiner Meinung nach passt er in vielen Räumen gut. Seine Form ist zurückhaltend und seine Modernität wird durch die geschwungene Form ausgeglichen, die in klassischeren Räumen fast schon dekorativ wirken kann. Ich denke, er hat auch in Besprechungsräumen seinen Platz oder im Zuhause als Esszimmerstuhl oder eigenständig an einem Schreibtisch. Ich glaube, kein anderer von mir entworfener Stuhl hat eine solch chamäleonartige Fähigkeit, sich überall anzupassen!

Den Stuhl gibt es in vier Farben – poppy red, elfenbein, light mint und graphitgrau. Wie lief der Entscheidungsprozess beim Spektrum und der Anzahl der Farbvarianten für EVO-C ab? Wie schaffen Sie ein zeitloses Design mit Blick auf unsere häufig wechselnden Farbpräferenzen?

Bei Vitra gibt es einen hochtalentierten Farbdesigner und zum Prozess gehört, dass wir die Farben zusammen auswählen. Im Anschluss daran werden eine Reihe von Modellen in voller Grösse lackiert, wobei wir mit mehr Farben anfangen und uns dann gemeinsam auf einige wenige Farben einigen, um eine effiziente Fertigung zu erlauben. Wenn die Verkaufszahlen stimmen, fügen wir später möglicherweise wieder weitere Farben hinzu.

Erklären Sie uns den Namen: Was bedeutet EVO-C – und wie wird es ausgesprochen?

Es steht für Evolutionary Chair, was ein etwas zu langer Name gewesen wäre und wird EVOK ausgesprochen. Der Name soll die Fortsetzung des evolutionären Weges dieser Stuhltypologie unterstreichen, der mit Mart Stams Original aus Metallrohren und Ellenbogengelenken begann, mit den Versionen aus gebogenem Holz von Alvar Aalto weitergeführt wurde und beim Stuhl von Verner Panton – ebenfalls von Vitra – und vielen weiteren nennenswerten Variationen nicht zu Ende ist.

Mit Ihrem grossen Wissen über Designgeschichte kennen Sie die Herkunft einer Typologie genau. Ist es nicht schwierig, dem eigenen Entwurf dennoch einen individuellen Charakter zu geben? Oder hilft dieses Wissen im Designprozess eher?

Ich kenne mich wahrscheinlich weniger aus als die meisten Gebrauchtmöbelhändler. Mein Wissen besteht hauptsächlich aus angesammelten visuellen Erinnerungen von unterschiedlichen Stuhltypen und meine Hand wird unterbewusst von all diesen Beispielen geleitet. Wenn ich all diese anderen Stühle nicht kennen würde, könnte ich vielleicht auch keine guten neuen Designs entwerfen. Wenn ich EVO-C jetzt analysiere, würde ich sagen, dass die Flachheit der Vorderbeine von den Holzstühlen von Aalto herrührt, bei denen die dünne Sitzoberfläche aus Schichtholz fast eben auf den flachen Bugholzbeinen aufliegt und dabei den Eindruck einer durchgehenden Oberfläche erweckt. Die gewundene Form der Beine und der Basis erinnert eher an die frühen röhrenartigen Bauhaus-Modelle, während der Sitz und die Rückenlehne in gewisser Hinsicht eine Aktualisierung des Panton Chair sind, wobei jedoch das Klingenartige der Rückenlehne meiner Meinung nach neu ist.

Wir sind Stuhlfanatiker. Was sind ihre Top 3 der Freischwinger?

Ich würde definitiv sehr gerne einen oder zwei der niedrigen Freischwinger von Aalto ohne Armlehnen besitzen. Ich liebe die Kurve des flachen Vorderbeins von Mies van der Rohes Brno Chair und die fantastische Materialbiegung des Panton Chair macht ihn zu meiner Nummer 3.

Das Arbeiten mit Kunststoff bringt natürlich auch viel Verantwortung mit sich, insbesondere in einem Zeitalter, in dem das Material aufgrund der dafür verwendeten fossilen Brennstoffe und seines Verbleibens in der Umwelt im Fokus steht. EVO-C wird aus einem Neumaterial hergestellt und ist von Anfang an auf Haltbarkeit und Langlebigkeit ausgelegt. Gab es Gründe dafür, warum keine Recycling-Kunststoffe verwendet wurden?

Ja, momentan ist es noch nicht möglich, den Stuhl mit Recycling-Kunststoff so herzustellen, dass er stabil genug ist. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass dies irgendwann möglich sein wird. Aktuell ist es wichtig, festzuhalten, dass ein gut gefertigter und gut konzipierter Plastikstuhl eine Lebensspanne von 20-30 Jahren hat und danach recycelt werden kann. Er entspricht in Bezug auf den Cradle-to-Customer-CO2-Fussabdruck einer Autofahrt von 67 km, drei Beefsteaks aus Massentierhaltung, einem Weihnachtsbraten oder zwei Dritteln einer Jeans. Die Menge an Einwegplastik, die ein durchschnittlicher Haushalt in einem Jahr verbraucht, wiegt in etwa so viel wie vier EVO-Cs und das meiste davon wird verbrannt, um die Energie wieder hereinzuholen. Während des Lebenszyklus dieses Stuhls wird Recycling zwangsläufig effizienter werden müssen und Artikel, die Neumaterial enthalten, werden hochgeschätzt sein, um andere nützliche Produkte herzustellen. Man kann einen Stuhl mit einer langen Lebensdauer nicht mit dem Grossteil der Einwegplastikprodukte und anderen Produkten aus fossilen Brennstoffen vergleichen, die gedankenlos verschwendet werden. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass die Herstellung eines Plastikstuhls eine der am besten geeigneten Verwendungsarten für fossilen Brennstoff ist. Er wird dadurch nämlich sinnvoll für die Zukunft aufbewahrt, ohne dabei unsere Ressourcen zu verschwenden.

EVO-C aus einem einzigen Material herzustellen sorgt dafür, dass der Stuhl einfach recycelt werden kann, sobald das Produkt das Ende seines Lebenszyklus erreicht hat. Wer trägt die Verantwortung dafür, dass der Stuhl zu diesem Zeitpunkt erfolgreich recycelt und das Material in die Wertschöpfungskette zurückgeführt wird?

In einer idealen Welt wäre das Recyclingsystem gut genug, um unsere wertvollen Ressourcen besser zu verwenden, sodass diese Rohmaterialien statt in einer Verbrennungsanlage zu landen und verbrannt zu werden, um schlecht isolierte Häuser mit Wärme zu versorgen, effizienter eingesetzt werden könnten. Sobald die schädlichsten Arten, fossile Brennstoffe zu nutzen, durch effizientere Energieversorgung, weniger verschmutzende Verpackungen, Herstelleraustauschprogramme (ich glaube Vitra hat in dieser Hinsicht bereits etwas in die Wege geleitet, lassen Sie uns dies überprüfen) und hochwertige Recyclingprogramme ersetzt sind, werden wir auch eine viel bessere Vorstellung davon haben, was wir guten Gewissens fertigen und nicht fertigen können. Ich gehe davon aus, dass wir in zwanzig Jahren, wenn die ersten EVO-Cs das Ende Ihrer Nutzungsdauer erreicht haben, die meisten bei der heutigen verschwenderischen Verwendung anfallenden Ineffizienzen ausgeräumt haben.

Was denken Sie darüber, wie Sie und Vitra angesichts von Covid-19 und dem Klimanotstand auf die gesellschaftlichen Veränderungen in unseren Lebens- und Arbeitsumständen reagieren werden?

Ich habe gerade einen düsteren Artikel in der Wochenendausgabe der Financial Times gelesen, der andeutete, dass wir wahrscheinlich sofort wieder in unsere verschwenderischen Gewohnheiten zurückfallen werden, wie das nach der Weltwirtschaftskrise in den 1920er-Jahren auch der Fall war. Ich bin mir aber nicht so sicher. Man kann sich kaum vorstellen, dass Unternehmen, die festgestellt haben, dass sie gar nicht so viel reisen müssen, sofort wieder darauf drängen würden, unnötig Geld auszugeben. Wenn Menschen an zwei oder drei von fünf Tagen von Zuhause arbeiten, wird es weniger Pendler geben. Es wird auch grosse technologische Verbesserungen und mehr Effizienz geben. Das Wohnumfeld wird viel wichtiger werden, als es dies vorher war. Ich habe mich immer gerne damit beschäftigt, vor allen Dingen eine gute Atmosphäre zu schaffen und wenn die Nachfrage danach in Zukunft steigt, würde ich mich darüber sehr freuen!

Veröffentlichungsdatum: 10.5.2020, zuerst veröffentlicht von twentytwentyone, London, für den EVO-C Online Viewing Room.
Autor: Max Fraser
Bilder: © Jasper Morrison Studio, Vitra


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