"Ein grossartiger Wurf"

Interview mit Rolf Fehlbaum

In seiner Stuhlkollektion fehlte der Landistuhl. Nun hat ihn Vitra wieder aufgelegt. Rolf Fehlbaum spricht über die Risiken und die Freude an einem Symbol der Moderne.

Wieso legen Sie mit dem Landi-Stuhl einen Stuhl wieder auf, der offenbar so schwierig zu produzieren ist?

Der Landi-Stuhl verfolgt mich seit langer Zeit. Ein Foto aus den späten Fünfzigern zeigt meinen Vater mit Charles Eames. Im Hintergrund steht der Landi-Stuhl. Die Eames statteten ihr Haus mit ihren eigenen Möbeln aus, aber für den Aussenbereich hatten sie nichts Passendes. Viele Jahre später bat mich Ray Eames, einen Landi-Stuhl zu besorgen, da die ihren gestohlen worden seien. Wer wie ich Stühle sammelt und produziert, stellt sich gerne seine Traumkollektion zusammen. Hans Corays Landi-Stuhl gehört dazu. Kommt hinzu, dass der grosse Wurf aus der Schweiz stammt und etwas eminent Schweizerisches repräsentiert. Ich wusste seit Langem, dass der Stuhl nicht in den richtigen Händen ist, denn ein guter Produzent trägt das Produkt in die Welt. Natürlich dachte ich, der Landi-Stuhl wäre etwas für uns.

Wann haben Sie sich konkret darum bemüht, den Landistuhl in die Kollektion aufzunehmen?

Vor fast dreissig Jahren, Ende 1985, sass ich mit Hans Coray, seiner Frau Henriette und unserem damaligen Entwicklungschef Egon Bräuning zusammen. Wir diskutierten, wie man den Stuhl besser produzieren könnte. Doch wir realisierten, dass das Projekt unter den damaligen Umständen nicht gelingen würde. 2002 fanden Gespräche mit Henriette Coray statt. Es ging damals um Werkzeugfragen und die Frage, ob Vitra den Stuhl zu einem angemessenen Preis anbieten könnte. Wir sahen zu diesem Zeitpunkt keinen Weg.

Was heisst für Sie ein angemessener Preis? Was darf ein Stuhl kosten?

Als der Landi-Stuhl entworfen wurde, gab es kaum Alternativen für einen Stuhl, der draussen eingesetzt wird. Inzwischen gibt es Hunderte, die billiger sind. Der Landi-Stuhl sieht unkompliziert aus, aber in der Herstellung ist er alles andere als einfach, und Aluminium ist ein edles Material. Er wird deshalb nie in die Preiskategorie eines Kunststoffstuhls gelangen. Er leistet aber auch etwas, was der Kunststoffstuhl nicht kann. Er ist langlebig, voll recyclebar, und die Eigenschaften von Aluminium sind – ganz abgesehen vom Wertbegriff – dem Kunststoff im Aussenbereich überlegen. Er ist also wesentlich aufwendiger und damit teurer als ein Plastikstuhl, aber wir werden ihn deutlich unter den 950 Franken verkaufen, für die er zuletzt in der Schweiz angeboten wurde. Das war die Voraussetzung, um die erheblichen Investitionen zu tätigen und den Erwartungen Henriette Corays und des Publikums zu genügen.

Weshalb ist eine sinnvolle Herstellung heute, dreissig Jahre später, möglich?

Ein mit uns vertrauter Hersteller ist technisch in der Lage, den Stuhl so zu produzieren, dass er unseren Ansprüchen genügt. Und zwar zu einem vernünftigen Preis, unter anderem, weil er für gewisse Arbeitsschritte Roboter einsetzt. Auch für Entwürfe von Jean Prouvé gilt, dass man dank Roboterschweissen gewisse Modelle wieder sinnvoll produzieren kann. Bei manueller Fertigung würden sie kostenmässig nicht in unsere Zeit passen.

Hat der Entwurf dank der neuen Fertigung jetzt erst seine Berechtigung gefunden?

Nein. Es ist unglaublich, dass 1939 ganze 1500 Stück für die Landesausstellung produziert werden konnten, das war eine tolle Leistung des Herstellers Blattmann. Und zu jener Zeit hatte der Stuhl eine andere Bedeutung. In der Ausstellung wurde auch unter der Bedrohung durch Nazideutschland eine Schweizer Identität gesucht. Als Reaktion war ein Zurück und ein Vorwärts denkbar, und an der Landesausstellung traten die Welten der Konservativen und der Modernen gemeinsam auf. Dass der Stuhl offenbar viele Schweizer Herzen für die Moderne gewinnen konnte, war wichtig. Die Leute mochten den Stuhl; in zeitgenössischen Kommentaren wird er als reizvoll, leicht, freundlich beschrieben – er strahlte den Geist der Moderne aus. Das war der wichtigste Moment für den Landi-Stuhl.

Ein Glücksfall?

Es war ein Wunder, dass der Landi-Stuhl entstehen konnte, in der knappen Zeit, von einem jungen Mann ausgedacht, der noch kein Möbel gemacht hatte. Das gilt im Übrigen auch für Blattmann, der ja kein Möbelhersteller war. Der Stuhl markiert auch den Beginn der neuen Typologie des Schalenstuhls, die Charles und Ray Eames mit der Kunststoffschale später zur Perfektion trieben. Die Idee, das Blech zu lochen, war dagegen nicht neu. Sie drängte sich auf, um die Leichtigkeit und die Stabilisierung des dünnen Alublechs zu erreichen. Aber die Idee, eine dreidimensional verformte Sitzschale zu entwerfen – das ist eine grosse gestalterische Leistung.

Schlägt der Landi-Stuhl auch eine neue Sitztypologie vor?

Das Neue war die Schale, nicht die Sitztypologie. Der Einsatz von Alu war ungewöhnlich, aber Breuer hatte das Metall schon Jahre vorher eingesetzt. Doch die dreidimensional verformte Schale aus Aluminiumblech vorzuschlagen, das war revolutionär. Und das Metall macht das Schweizerische an dem Stuhl aus. Die ersten Aluwerke in Europa standen am Rheinfall, insofern war es ein modernes schweizerisches Material. Und es eignet sich ideal für den Aussenbereich. Es rostet nicht, ist leicht, der Stuhl ist stapelbar – da kam viel zusammen: ein grossartiger Wurf.
„Mir gefällt die Direktheit, das Unbekümmerte, ja eine gewisse Unbeholfenheit in manchen Details. Der Landi-Stuhl ist kein durchkomponiertes Designobjekt, sondern ein Wurf. Die Moderne mit ihrer Aufforderung zum Neubeginn drückt sich darin beispielhaft aus.“

Ist der Stuhl immer noch so zeitgemäss wie damals?

Im Gegensatz zu Antiquitäten, also Objekten aus einer anderen Zeit für eine andere Zeit, ist ein Klassiker unser Zeitgenosse, auch wenn er aus einer anderen Zeit stammt. Ein Klassiker hat die Kraft, durch die Zeit zu gehen und relevant zu bleiben.

Was macht den Landi-Stuhl zum Klassiker?

Er musste sich zunächst nicht am Markt durchsetzen, da er ja nicht im kommerziellen Umfeld entstanden ist. Doch spätere Auflagen wurden durch die Kunststoffstühle, die die gelochte Schale übernahmen, hart bedrängt. Trotzdem blieb der Landi-Stuhl in seiner Leichtigkeit, in der Materialeinheit von Aluminium und in der Qualität des Entwurfs für Leute mit ästhetischer Sensibilität uneingeholt von Modellen, die scheinbar die gleiche Leistung bieten und billiger sind. Doch der Landi-Stuhl hat bezogen auf Langlebigkeit den entscheidenden Vorteil. Er wandelte sich im Laufe der Zeit vom Volksstuhl zu einem Stuhl für Kenner. Ähnliche Umwertungsprozesse durchlaufen im Übrigen auch andere Klassiker. Ein Stuhl von Jean Prouvé war in seiner Zeit sehr preiswert und wurde später durch neue Verfahrenstechniken und Materialien bedrängt. Ist der Entwurf stark, erfahren solche Produkte eine Umwertung: Früher war ihr Einsatzort eine Schule oder eine Fabrik, heute wird die überzeitliche Qualität des Entwurfs geschätzt, und der Stuhl steht vielleicht in einem gehobenen bürgerlichen Interieur oder in einem Restaurant.

Sie sprechen den kulturellen Mehrwert an?

Dieser Mehrwert ist bestimmt nicht für jede und jeden zugänglich oder relevant. Für uns hat der Landi-Stuhl auch seine Berechtigung, weil er ein Zeitzeuge ist und für Werte steht, die wir bewundern.

Die Bedeutung, die der Stuhl als Zeichen der Moderne einst hatte, erfahren wir als historische Referenz. Aber welche Bedeutung transportiert er heute, im Zeitalter der Post-Postmoderne?

Er ist nüchtern und schnörkellos, aber gleichzeitig beschwingt. Selbst seine dekorative Seite hat eine Funktion. Mir gefällt die Direktheit, das Unbekümmerte, ja eine gewisse Unbeholfenheit in manchen Details. Der Stuhl ist kein durchkomponiertes Designobjekt, sondern ein Wurf. Die Moderne mit ihrer Aufforderung zum Neubeginn drückt sich darin beispielhaft aus. Er bleibt ein Vorbild auch für Zeitgenossen. Er ist etwa Jasper Morrisons Lieblingsstuhl; er repräsentiert das, wofür er selbst einsteht.

Passt der Landi-Stuhl noch in unsere Zeit?

Solange der Geist der Moderne unsere Zeit prägt, ist er ein Objekt unserer Zeit. Zeigte man den Stuhl einer Person, die wenig über Möbel weiss, aber ästhetisch sensibilisiert ist, mit der Frage, wie alt der Entwurf sei, wäre die Antwort gewiss nicht 75 Jahre!

Technologie und Entwurf bedingen sich gegenseitig. Hat die Roboterfertigung den Entwurf verändert?

Natürlich beeinflussen die jeweiligen Möglichkeiten der Produktion den Entwurf. Es gibt Verfahren, die über lange Zeit gleich bleiben wie etwa Metallschweissen. Aber neue Technologien eröffnen neue Möglichkeiten. So können wir heute kleben, wo man früher schweissen musste. Das vereinfacht die Produktion. Ebenso ersetzt ein Roboter die manuelle Fertigung eins zu eins – nur ist er exakter und schneller. Geändert haben wir am Entwurf sehr wenig, er entstand aus der Synthese der verschiedenen Produktionsvarianten, die wir zusammen mit Henriette Coray analysierten und bewerteten. Ihre Erfahrung war in diesem Prozess wichtig, wir stimmten alle Schritte mit ihr ab. Um heutige Normen und die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Menschen heute im Schnitt grösser sind, wurden leichte Anpassungen vorgenommen. Am Charakter des Stuhls hat sich aber nichts geändert.
„Ein Klassiker ist unser Zeitgenosse, auch wenn er aus einer anderen Zeit stammt. Ein Klassiker hat die Kraft, durch die Zeit zu gehen und relevant zu bleiben.“

Würde man einen neuen Stuhl so herstellen wie den Landi-Stuhl?

Vermutlich nicht. Aber das ist ja der Reiz des Entwurfs. Manches, was die Herstellung des Stuhls kompliziert macht, hat auch Vorteile, vor allem die Einheit des Materials. Heute würde man fragen: Was ist das beste Material und die beste Konstruktion für ein Gestell und für eine Schale, und wie verbindet man sie am besten? Dann käme ein Rattenschwanz von Anforderungen wie Reihenverbindung, Sitznummerierung usw. Dabei würde ein vernünftiges, gut gestaltetes Produkt herauskommen, aber kaum ein grosser Wurf. Also macht die wundervolle Materialeinheit immer noch Sinn. Es gibt viele Gründe für die Auflage des Landi-Stuhls. Aber wir stellen ihn nicht um seiner selbst willen her. Wir wollen ihn auch unter die Leute bringen.

Veröffentlichungsdatum: 28.04.2016 / Themenheft von Hochparterre, Mai 2014
Autor: Meret Ernst
Bilder: Hans Baumgartner / Fotostiftung Schweiz, Roland Beck, Florian Böhm / AKFB, Marc Eggimann, Véronique Hoegger, Bettina Matthiessen



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