Is It Vulgar or Is It Art?

Eine Vitra-Anekdote

Die Eames Fiberglass Chairs wurden 1950 als die ersten industriell in Masse produzierten Kunststoffstühle auf den Markt gebracht. Die organisch geformten Schalen auf einem minimalistisch wirkenden Untergestell repräsentierten eine neuartige Stuhltypologie, die einen radikalen Gegensatz zu den in jener Zeit gebräuchlichen, meist dick gepolsterten Möbeln darstellte. Charles und Ray Eames waren ihrer Zeit in vielen Dingen voraus und umgaben sich mit Freunden, die ebenso visionäre Anschauungen hatten. Einer von ihnen war der amerikanische Cartoonist Saul Steinberg, der sich mit Arbeiten einen Namen gemacht hatte, die die gängigen visuellen Grenzen überschritten.
Kurz nachdem Charles und Ray die Eames Fiberglass Chairs entwickelt hatten, war Saul Steinberg zu Besuch im Eames Office am Washington Boulevard 901 in Los Angeles. Bei dieser Gelegenheit nahm er sich einen Pinsel und malte an verschiedenen Stellen des Ateliers einige muntere Cartoons auf. Dabei bezog er verschiedene Objekte und Oberflächen mit ein: Sketches, die auf einem Möbel begannen, führte er auf der Wand dahinter oder auf dem Boden darunter weiter. Einer der Cartoons war eine nackte Frau, die in einer Form der La Chaise sitzt, ein anderer zeigte eine Katze, die auf einem frisch produzierten Eames Fiberglass Armchair schläft. Steinberg malte auch die Umrisse des Oberkörpers einer nackten Frau in einer Armchair-Schale, ihre Beine führte er auf dem Boden vor der Schale weiter.
Diese „Sitting Nude“ versetzte 1951 bei der Eröffnung des Municipal Art Center von Long Beach die Kunstkritiker in Aufregung: Die Kuratoren der Ausstellung hatten dem Stuhl einen prominenten Platz zwischen anderen Kunstobjekten eingeräumt. Der Aufruhr begann, als Mitglieder des lokalen Kunstausschusses die Nackte entdeckten und sie gegen die Wand drehten. Die Direktoren der Ausstellung drehten sie wieder um, worauf der Präsident des Ausschusses mit dem Argument, er sei „vulgär“ und nicht Kunst, verlangte, dass der Stuhl aus der Ausstellung entfernt werde – was die Ausstellungsleitung verweigerte.

Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass eine einfache Zeichnung einer nackten Frau auf einer Stuhlschale einen derartigen Streit auslösen würde, aber eben: Man schrieb das Jahr 1951 und die Zeiten waren andere. Kurze Zeit später berichtete der Los Angeles Herald-Express in einem Artikel über die Kontroverse – mit einem Foto des Stuhls und der Überschrift „Is It Vulgar or Is It Art?“.
Charles und Ray Eames hielten den Cartoon nicht für vulgär. So wie Steinberg die bahnbrechende Arbeit der Eames bewunderte, so sehr schätzten sie seine Art, mediale Grenzen zu überschreiten. Sie „luden etwas später die nackte Frau zum Nachtessen ein“ und stellten den Stuhl in eines ihrer Collage-Settings für ein Fotoshooting. Der Fotograf war Charles Eames. Heute gehört der Stuhl mit der Katzenzeichnung dem Eames Office und der Familie Eames. Der Fiberglass Chair mit der nackten Frau ist vom Eames Office und der Familie permanent an das Vitra Design Museum in Weil am Rhein ausgeliehen. Beide Stühle reisen für Ausstellungen um die ganze Welt, aber gelegentlich wird der Stuhl mit der nackten Frau auch im Vitra Schaudepot in Weil am Rhein gezeigt.
Weitere Informationen zu Charles und Ray Eames und ihren Möbeln finden Sie in den beiden Publikationen «Eames Furniture Sourcebook» und «Essential Eames». Die zwei Neuerscheinungen sind in deutscher und englischer Sprache im Buchhandel oder direkt beim Verlag des Vitra Design Museums erhältlich.

Veröffentlichungsdatum: 04.08.2016
Autor: Stine Liv Buur
Bilder: © 2016 Eames Office, LLC (www.eamesoffice.com)



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