10 Jahre Tip Ton

Barber & Osgerby im Gespräch

Vor gut zehn Jahren hat Vitra mit den britischen Designern Edward Barber und Jay Osgerby den Stuhl Tip Ton entwickelt und 2011 auf den Markt gebracht. Ursprünglich für Schulen und Universitäten gedacht, hat sich Tip Ton dank seiner ikonischen Form als Universalstuhl bewährt, der auch vielfach zuhause eingesetzt wird. Im Interview blicken die Designer zurück auf die vergangene Dekade – und wagen einen Blick in die Zukunft.

In den letzten zehn Jahren wurdet Ihr oft auf Tip Ton angesprochen. Was ist an dem Stuhl so besonders?

Osgerby: Anfangs waren wir uns nicht sicher, ob er sich wirklich gut verkaufen würde, obwohl das rückblickend fast schon offensichtlich scheint. Aber damals hatten wir unsere Zweifel. Als die ersten Angebote für die Werkzeugmaschinen hereinkamen, sah es so aus, als würde die Herstellung unglaublich teuer. Tatsächlich ist die Fertigung nicht ganz einfach, weil der Stuhl im Spritzgussverfahren in einem Guss aus Plastik hergestellt wird. Das war durchaus riskant. Wir wussten nicht, ob das technisch überhaupt machbar ist und wenn ja, ob die Leute sich daran gewöhnen würden. Mit Vitra hatten wir aber den richtigen Partner für so ein Projekt, Menschen mit Weitblick und Zuversicht, die auch einmal ein Risiko eingehen. Durch die Zusammenarbeit entstand auf beiden Seiten ein grosses Vertrauen. Inzwischen haben wir noch weitere Projekte mit Vitra umgesetzt. Erst kürzlich kam Soft Work auf den Markt: unsere Antwort auf den gegenwärtigen Wandel in der Arbeitswelt. Doch alles begann mit Tip Ton. Dieser Stuhl war die Grundlage für die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Barber Osgerby und Vitra.

An Tip Ton wurde lange geforscht, der Stuhl durchlief zahlreiche Tests. War das mehr, als Ihr es von anderen Projekten gewohnt wart?

Osgerby: Es war schon anders. Wir wussten zwar, was wir machen wollten, aber wir wussten nicht, ob das überhaupt geht. Wir mussten selbst die einfachsten Dinge mit einem Fragezeichen versehen, zum Beispiel den Winkel der Vorwärtsneigung. So etwas wie den Tip Ton gab es eben noch nicht; der Stuhl war ein neuer Archetyp. Wir konnten uns kaum an früheren Studien orientieren, stattdessen mussten wir selbst Modelle und Vorrichtungen bauen. Dabei verwendeten wir statt der Kufen ein Stück Holz, um verschiedene Winkel auszuprobieren. Wir haben richtig viel experimentiert!

Tip Ton wurde schon bald universal eingesetzt. Hattet Ihr das von Eurem Entwurf erwartet?

Barber: Wir waren überrascht, wie schnell der Stuhl sich durchgesetzt hat. Wir hatten mit einem viel längeren Zeitraum gerechnet. Doch innerhalb von nur zehn Jahren ist Tip Top auf der ganzen Welt zu finden.

Wie seht Ihr Tip Ton jetzt, zehn Jahre später? Denkt Ihr darüber nach, ihn noch weiter zu entwickeln?

Osgerby: Tip Ton hat inzwischen ein Eigenleben, mit zehn Jahren ist er längst volljährig. Wir haben ihn schon in allen möglichen Umgebungen gesehen, und das ist eigentlich wichtiger als verschiedene Entwicklungsphasen. Aber der Stuhl hat sich weiterentwickelt, das ist wahr. Das Farbspektrum ist grösser. Ausserdem gibt es jetzt auch noch Tip Ton RE: Vitra hat die technischen Grundlagen des Ur-Tip Ton auf wirklich spannende Weise weiterentwickelt, um einen Stuhl herzustellen, der nicht nur wiederverwertbar ist, sondern selbst aus wiederverwertetem Material besteht. Das bedeutet uns viel.

Welche Rolle sollten Kunststoffe Eurer Meinung nach im Möbeldesign spielen?

Barber: Auf unserem Planeten gibt es schon viel Kunststoff. Theoretisch besteht keine Notwendigkeit, neuen herzustellen. Wenn man Kunststoff vollständig wiederverwertet, wieder und wieder, bräuchte man kein Holz und müsste keine Bäume fällen, um Möbel herzustellen. Auch bei hoher Beanspruchung – zum Beispiel in der Schule – hält so ein Stuhl viele Jahre. Ein gebauter Stuhl ist im Gegensatz dazu weniger langlebig, egal ob er aus Metall oder aus Holz besteht. Ein wiederverwertbarer Stuhl ist gut, aber das reicht uns nicht. Er muss ausserdem so langlebig sein, dass es sich lohnt, ihn überhaupt herzustellen und später zu recyceln, denn schliesslich wird dabei auch Energie verbraucht.

Was war Eure schönste Begegnung mit Tip Ton?

Barber: Am schönsten sind wohl diese stillen Momente, wenn der Stuhl ganz unerwartet an einem Ort auftaucht, wo man nicht unbedingt mit einem Designstuhl rechnet. Da bleiben wir dann auch selbst unerkannt und können uns ungestört umsehen. Als Designer hört man nie auf, die eigene Arbeit zu bewerten und zu schauen, was die Leute damit machen. Diese Neugier steckt im Kern unseres Tuns. Wie jemand unwillkürlich nach vorn schaukelt, um sich ganz konzentriert in seine Arbeit zu vertiefen, oder sich zurücklehnt, um einen Blick auf die Welt jenseits des Computerbildschirms zu werfen – die Nutzer und Nutzerinnen tun das völlig unbewusst. Aber es tut ihnen gut.

Veröffentlichungsdatum: 15.10.2021
Bilder: Vitra


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