Ein Tag im Leben eines Stuhls

Ein Essay von Max Küng

„Wie so ein Tag im Leben eines Stuhls ausschaut? Nun, ziemlich unterschiedlich. Es gibt bei mir keinen 08/15-Alltag, kein eight-to-five, kein fixes Profil. Mein Besitzer (ziemlich passender Name für einen, der auf mir sitzt...) ist manchmal da, manchmal nicht, er arbeitet so, wie man heutzutage arbeitet. Wenn er da ist, dann sitzt er meist am Schreibtisch, am Computer. Er lehnt sich zurück, um nachzudenken, auf einem Filzer kauend. Er rollte ein bisschen hin und her, vor und zurück. Manchmal höre ich ihn leise fluchen. Manchmal arbeitet er bis tief in die Nacht hinein, lange Stunden ohne Pause (ich würd’ ihn dann und wann am liebsten in hohem Bogen abwerfen, so wie ein Rodeo-Pferd seinen Reiter).

Manchmal steht er rauchend am Fenster, manchmal geht er zu jemand anderen im Büro und erzählt etwas. Er setzt sich hin. Steht auf. Setzt sich wieder hin. Ich höre ihn lachen; meistens aber ist er still und ich hör bloss das Klappern der Tastatur. Manchmal rollt er mit mir zur Kaffeemaschine, lässt sich im Sitzen einen Espresso raus. Manchmal geht er auf und ab, Papiere in den Händen, lesend. Manchmal schaut er aus dem Fenster, ganz entspannt hockt er dann auf mir und blickt zum Baum vor dem Fenster, dann klatscht er plötzlich in die Hände und sagt ‚YES!’ oder sowas (ich glaube, dann hatte er einen Einfall).

Wenn er sitzend telefoniert, dann hat er die Angewohnheit, sich nach hinten zu neigen und meine Rückenlehne bis zum Anschlag durchzudrücken; kann er auch, ich bin nämlich ziemlich flexibel. Manchmal hockt er mit übereinandergeschlagenen Beinen da. Manchmal justiert er die Sitzhöhe. Fährt sie rauf und runter. Ich glaube, er macht das aus lauter Spass. Ihm gefällt das feine, pfupfende Geräusch, das es gibt und ihn an irgendwas aus der Kindheit erinnert. Es gibt Tage, an denen er gerne etwas höher sitzt, an anderen ein paar Millimeter tiefer. Es ist wirklich kein Tag wie der andere. Und manchmal sind seine Kids im Büro, die benutzen mich dann als Rennwagen; oder Raumschiff; oder Gabelstapler - für die kann ich alles sein.
Noch was Persönliches über mich? Okay; ich bin das vorerst letzte Glied einer Ahnenreihe von Stuhl- Ikonen. Ja, das kann man so sagen. Nicht, dass ich mir was drauf einbilde, aber ich bin für einen Stuhl ziemlich weit entwickelt. Ich meine: In der Steinzeit, da hockten sich die Leute auf einen Felsen, um Steine zu klopfen oder was immer sie damals klopften. Irgendwann kam der mobile Stuhl: Grossartige Erfindung! Aber heute sind wir doch noch ein bisschen weiter. Ich sag nur: Lumbalstütze; Synchronmechanik; flexible Rahmenkonstruktion. Heute alles selbstverständlich - musste aber erst einmal erfunden werden. Wenn ich so über meine Qualitäten nachdenke, dann könnte ich mir vielleicht doch was drauf einbilden...

By the way, Stichwort Anpassungsfähigkeit: So müssen wir auch sein, weil sich alles verändert. Weiss ja jede und jeder: Die Dinge bleiben nicht so, wie sie eben noch gewesen sind. Zum Arbeiten brauchen die Leute ja bloss einen mobilen Computer und ein bisschen Internet, und das gibt’s ja mittlerweile an jeder Ecke. Kann sich jemand noch daran erinnern, dass es einmal anders gewesen war? Kann sich jemand an Kabel erinnern? Kabel, mit denen man den Computer mit der Telefonbuchse verbinden musste, um ins World Wide Web zu gelangen? Die Arbeitsplätze waren mit Kabeln an Buchsen gefesselt! Kann sich jemand an das Geräusch erinnern, wenn sich der Computer mit dem Internet verband? Dieses kratzende Kreischen? Es scheint so fern wie das Pleistozän.

Ich weiss, dass ich nicht der einzige Stuhl im Leben meines Besitzers bin, weil er dort arbeitet, wo es ihm gerade passt: Daheim am Küchentisch hockend, das Frühstück noch nicht abgeräumt, dann mal am Esszimmertisch rittlings auf nem Holzstuhl zwischen Bergen ungebügelter Wäsche, unterwegs in der rüttelnden Strassenbahn, vor einem Café an der Sonne, im Zug, im Flug, abends auf dem Sofa fläzend, das Laptop auf den Schenkeln, während er mit einem Auge „Game of Thrones“ schaut.

Ich bin da nicht eifersüchtig, höchstens manchmal ein bisschen, wenn ich merke, dass mein Besitzer das Arbeiten im morgendlichen Bett eigentlich viel schöner findet, als mit mir am Bürotisch. Aber ich hab’ ja auch meine Affären mit anderen Tischen und Benutzern. Ja, wir sind in unserer Beziehung ziemlich modern, könnte man sagen. Hey: Er macht seinen Job, ich mach den meinigen. Der Rest ist Sitzen; egal wo. Hauptsache, er sitzt richtig und bequem und nicht zu lange. Ich bin bloss das, was ich bin: ein Stuhl. Stets zu Euren Diensten, so gut es geht.“

Euer Thron (das ist mein Name...war nicht meine Idee...so nennt er mich)

Veröffentlichungsdatum: 20.12.2018
Autor: Max Küng
Illustrationen: Cosimo Wunderlin

Das könnte Sie auch interessieren